Die Welt

Immer nur die üblichen Spitzentöneklöppler

8. April 2013

Altbekanntes Modernes beim Berliner Festival Märzmusik: Wo bleibt der echte Dialog mit dem Mittelmeerraum?

Wagner, Bruckner und Debussy, so hieß die avantgardistische Elite des späten 19. Jahrhunderts. Für uns sind sie Klassiker. Das kann den Komponisten, die bei Märzmusik antreten, dem Berliner „Festival für aktuelle Musik“, nicht passieren – was heute aktuell ist, ist morgen belanglos. Die zeitgenössische E-Musik steckt wieder mal in der Krise. Nicht etwa, weil es keine großen Komponistenpersönlichkeiten mehr gäbe. Sondern weil sie nicht gespielt werden. Auch in ihrem zwölften Jahr fördert Märzmusik kaum überlebensfähige Werke ans Licht. Trotzdem zeigen sich die Veranstalter zufrieden, 32 Aufführungen mit insgesamt 9000 Besuchern sehen sie als hinlänglichen Beweis, dass hier Relevantes geschehen ist.

Ist es wirklich relevant, weiterhin die Nischenkultur der Neuen Musik zu bedienen? Wie lange eigentlich wollen unsere Festivals moderner Musik die wichtigsten Komponisten moderner Musik noch marginalisieren? Es wäre doch so leicht gewesen, zwei der diesjährigen Kernthemen, nämlich Schlagwerkmusik und türkisch-arabische Komponisten, auf beeindruckende Weise personell zu verbinden. Doch stand schon vor dem Anpfiff fest, dass der bedeutendste Komponist der türkischen Moderne, der 1991 verstorbene Ahmed Adnan Saygun, bei Märzmusik kein Forum erhalten würde. Obwohl gerade er höchst originelle Lösungen gefunden hat, was die Durchdringung klein- und großformatiger Werke mit perkussiven Elementen betrifft. Statt seiner gab es lärmende, vierzig Jahre alte Orchesterstücke von Lachenmann und Ferneyhough, das übliche Spitzentönegeklöppel von Furrer, Mundry und Sciarrino und jede Menge elektronisches Gefiepe. Fesselnde, dicht gewebte Texturen wie Wolfgang Mitterers „rasch“ für String drums waren in der Minderheit.

Die Komponisten aus der Türkei, der Levante und dem Maghreb steuerten immer dann Gehaltvolles bei, wenn sie sich um Hybridmodelle bemühten, also um die Verschmelzung orientalisch-traditioneller und westlich-moderner Stilmerkmale. Im Rekurs auf regionale, instrumentale Eigenarten liegt nach wie vor ein gewaltiges Entwicklungspotenzial, das zeigten Onur Türkmen, Hamza el Din und Samir Odeh-Tamimi. Hasan Uçarsu, unter den lebenden Komponisten der Türkei wohl der wichtigste, war mit dem noch frischen „El Emeği“ vertreten – hier verweigert einer das Esperanto der Epigonen und sucht radikal nach persönlichem Ausdruck. Für sein neues Ensemblestück und damit für seine gesamte Ästhetik reklamiert er „eine kritische Position gegenüber den stereotypen Fließbandprodukten des Industriegewerbes.“ Mit dem Sprengstoff, der in diesem Satz steckt, ließe sich ein Großteil des gesamten Festivals versenken. Insofern war es ein kleines Wunder, vielleicht aber auch nur ein programmatischer Ausrutscher, dass ausgerechnet der Saygun- Schüler Uçarsu bei Märzmusik zehn Minuten für sich beanspruchen durfte.

Vollends ins Wunderbare führte Marc Sinans vor drei Jahren erstmals unternommene anatolische Klang- und Bilderreise „Hasretim“. Gemeinsam mit den Dresdner Sinfonikern hat der türkisch-armenisch-deutsche Gitarrist Sinan ein geradezu fabelhaftes Werk geschaffen, das die Folklore seiner Teil-Heimat beschwört. Auch die Präsentation von „Hasretim“ verriet einen ironischen, subversiven Zug. Denn die Demut anatolischer Volksmusik, gepaart mit rhythmischen und harmonischen Finessen, entlarvte gnadenlos die Leere jener konformen Massenartikel, die noch immer den Markt beherrschen. „Hasretim“ war bei Märzmusik das einzige abendfüllende Werk, das die drei thematischen Linien miteinander zu verbinden wusste. Steve Reichs berühmtes Video-Oratorium „The Cave“ erfüllt diese Bedingung nicht. Das mit der Videokünstlerin Beryl Korot entwickelte und 1993 in Wien uraufgeführte Zwei-Stunden-Epos passt zwar in die Kategorie Minidrama/Monodrama/Melodrama, bietet auch reichlich perkussive Strukturen, enthält aber nicht die geringste Spur orientalischer Musik. Der Nahe Osten ist hier nur thematisch präsent, nämlich durch die Geschichte Abrahams und seiner zwei Frauen und Söhne. Dafür wurden Israelis, Araber und Amerikaner nach der biblischen Stammfamilie befragt, ihre Antworten übersetze Reich dann in Musik. Da alle Interviewpartner englisch sprachen, liefert auch die englische Sprachmelodie das Grundmuster für die melodischen und rhythmischen Erfindungen. Was ungefähr so authentisch ist wie Verdis „Don Carlo“ auf Italienisch oder Französisch. Die musikhistorische Bedeutung von „The Cave“ mindert es freilich nicht. Wer diese Anti-Oper vor zwanzig Jahren gehört hat, erinnert sich noch gut des Schocks, der einen gleich anfangs ereilt, wenn die Sätze der Redner in Schriftform auf die Leinwand gehämmert und von Instrumentalisten und Sängern im Martellato-Ton wiederholt werden.

Die Geburt einer neuen Kunstgattung, so empfand man das damals. Auch das durch unterschiedliche Perspektiven gebrochene Sujet, Abraham als dreifacher Religionsgründer, Ismael und Isaak als Stammväter der Araber beziehungsweise Juden, das alles verschafft „The Cave“ Aufmerksamkeit und vielleicht sogar Unsterblichkeit. Rein kompositorisch stecken in den 120 Minuten allerdings viel Leerlauf und Monotonie, Reich kann keine musikalischen Höhepunkte schaffen, was anderen Minimalisten wie Philip Glass oder Michael Nyman durchaus gelungen ist.

Resümee: Die zeitgenössische Musik ist stärker und reicher, als uns das Festival Märzmusik seit Jahren glauben machen will. Sie kann so neu und gewaltig sein wie Wagner, so tiefsinnig wie Bruckner, so elegant wie Debussy. Und nicht zuletzt für das breite Publikum so faszinierend wie Wiener Klassik und Pop. Wir leben nicht mehr im Jahre 1965! Wer Gegenwartsmusik vorwiegend im defizitären Modus des Experiments und der Installation zur Schau stellt, erweist ihr keinen guten Dienst.