Sächsische Zeitung
Nicht improvisieren? Geht nicht!
30. Oktober 2018
Irgendwas ist immer. Andreas Gundlach gibt am Montag zur Probe diese Binsenweisheit zum Besten und bleibt völlig entspannt. Wenige Stunden zuvor ist ihm sein eigenes Werk auf die Füße gefallen. Beim Konzert zum 20. Geburtstag der Dresdner Sinfoniker muss improvisiert werden. Es gehört zu diesem Klangkörper. Und es passt zu den Jazztagen Dresden, die damit am Donnerstag im Ostrapark eröffnet werden.
Gundlach, ein Urgestein der Sinfoniker und in Dresdens Jazzszene bestens bekannt, hat zum Anlass ein halbstündiges Konzert für Klavier, Synthesizer und Orchester geschrieben. Der Klavierpart war Andreas Boyde zugedacht. Dieser sagte seinen Auftritt am Morgen wegen eines Todesfalls im engsten Familienkreis ab. Ersatz wird drei Tage vor dem Konzert gar nicht erst gesucht. Gundlach, der sich auf seiner Website treffend als „Multitas-King“ präsentiert, übernimmt selbst und springt zwischen den Klaviaturen hin und her. „Aber ich muss natürlich improvisieren“, sagt er, ohne dass seine Vorfreude von irgendeinem Bangen getrübt scheint.
Als sich die Dresdner Sinfoniker formierten, hatten sich die Gründer Sven Helbig und Markus Rindt auf das Debütkonzert 1998 konzentriert. Das stand unter der Schirmherrschaft von Yehudi Menuhin, der den grenzüberschreitenden Ansatz begrüßte. „Wenn ich heute auf über siebzig verschiedene Projekte und wunderschöne Tourneen zurückblicke, muss ich zugeben, dass ich mit dieser Entwicklung am Anfang nicht gerechnet hätte“, sagt Markus Rindt, der seit Helbigs Weggang als alleiniger Intendant das Orchester leitet.
Besonders sind die Aktivitäten der vergangenen Jahre im Ausland, die die Musiker gemeinsam mit Kollegen der jeweiligen Regionen veranstalten. Auslöser der „Symphony for Palestine“ war der Tod eines Kindes, das für einen Kämpfer gehalten und erschossen wurde. Vor einem Jahr protestierten die Dresdner Sinfoniker an der mexikanisch-amerikanischen Grenze mit dem Konzert „Tear down this Wall“ gegen den von US-Präsident Donald Trump geplanten Mauerbau. Dies gab Anlass, den diesjährigen Erich-Kästner-Preis an Markus Rindt zu vergeben.
Politisch brisant ist denn auch die Geschichte hinter der Rockoper „Disidentes“, die am Donnerstag eine konzertante Vorab-Aufführung erlebt. Komponist Enrico Chapela verarbeitet darin das Massaker an Studenten, die 1968 in Mexiko für Reformen auf die Straße gingen. Keine typische Geburtstagsmusik, aber typisch Dresdner Sinfoniker wie die Wahl des Dirigenten. Premil Petrovic, der schon beim Projekt „Aghet“ am Pult stand, leitet dieses Jubiläumskonzert. In seiner Heimat gründete er das No Borders Orchestra, ein Zusammenschluss von Musikern aus Ländern des ehemaligen Jugoslawien, wider den politischen Gegenwind.
Für positiven Wind wird gleich anfangs eine seltene Apparatur sorgen: das Universal Druckluft Orchester Dresden. Unter einem lustig im Takt hüpfenden gelben Schirm surren Maschinen des Erfinders Peter Till. Das Orchester aus programmierten Druckluftgitarren, pneumatischen Bläsern und Perkussion spielt ohne Rücksicht auf lebende Musikanten. Es zieht durch und die Dresdner Sinfoniker proben mit Energie, um bei Frank Zappas furiosem „G-Spot Tornado“ Schritt zu halten. Auch Andreas Gundlach rast am Klavier mit. Er wird kaum Mühe haben. Kollegen fragen: Wie kann man nur so gut sein? Sein Konzert hat der ehemalige Kompositionsschüler von Rainer Lischka „Quartüüryum“ genannt. Wegen der vielen Quarten in dieser lebhaft sprudelnden Musik. Zu Ehren des Esten Erkki-Sven Tüür, den Gundlach verehrt. Und schließlich sei das selbstausbeuterische Dasein eines Dresdner Sinfonikers ein Martyrium. Da bleibt nur anhaltender Idealismus zu wünschen.
Von Karsten Blüthgen