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AGHET – Die große Katastrophe

Schon die Ankündigung „Ein Konzertprojekt der Dresdner Sinfoniker besetzt mit armenischen, türkischen und europäischen Musikern in Gedenken an den Genozid an den Armeniern“ ließ aufhorchen. Der Anlass: Der Genozid an den Armenien. Das Ziel: ein gültiges Zeichen der Versöhnung setzen. Konkret hieß das: Die türkische, in Berlin lebende Komponistin Zeynep Gedizlioğlu, der Armenier Vache Sharafian und der Deutsche Helmut Oehring konnten für das Projekt gewonnen werden. Internationaler wurde das Projekt durch die Kooperation mit dem No Borders Orchestra mit Musikern aus allen ex-jugoslawischen Staaten, die zusammen mit Deutschen, Armeniern und Türken musizierten.

Auch der Gitarrist und Komponist Marc Sinan Aghet gehörte zum Team. Den ADK- Lesern ist er durch Ludolf Bauckes Rezension von „Hasretim“ bekannt („Zurück zu den Wurzeln – DVD und CD mit Marc Sinans ‚Hasretim‘ “, ADK 162, Jg. 2014/ Heft 1). Marc Sinan hat sowohl „Hasretim“ („Meine Sehnsucht“) als auch „Dede Korkut“ mit den Dresdner Sinfonikern realisiert, „AGHET“ ist das dritte gemeinsame Projekt.
Der geschichtliche Hintergrund von „Aghet“ ist auf ganz besondere Art und Weise mit der Herkunft des Solo-Gitarristen Marc Sinan verwoben: Er besitzt sowohl armenische als auch türkische und deutsche Wurzeln. Seine armenische Großmutter verlor ihre Eltern in Folge der Deportationen nach dem 24. April 1915. Als Waisenkind wuchs sie bei streng gläubigen Muslimen am Schwarzen Meer auf.

Der Zugang der jungen, vielfach ausgezeichneten Komponistin Zeynep Gedizlioğlu zum Thema ist anders. Die Ermordung des armenischen Journalisten Hrant Dink vor dem Redaktionsgebäude seiner Zeitung Agos am 19. Januar 2007 von einem türkischen Nationalisten, die Parole „Wir alle sind Hrant Dink. Wir alle sind Armenier“, die Abertausende bei seiner Beerdigung skandierten, haben sie zum Streichquartett Susma (Schweige nicht!) inspiriert, es ist auch Hrant Dink gewidmet Auch zu 1915 hat Gedizlioğlu sich Gedanken gemacht, hier nachzuhören. Ihr „Notes from the Silent One“ für Streichorchester ist eine Uraufführung und ein Auftragswerk der Dresdner Sinfoniker. „Eine musikalische Reflexion über ungesagte Dinge“, merkt Financial Times an.

Zu Vache Sharafyans „Surgite Gloriae“ (deutsche Erstaufführung) für Viola, Duduk, Horn, Bariton, Knabensopran und Streichorchester schreibt die Financial Times: „Eine Art sakrales Lamento, das viel der Hochromantik und der armenischen liturgischen Musik verdankt.“

Helmut Oehrings „Massaker, hört Ihr Massaker“ (Auftragswerk der Dresdner Sinfoniker und eine Uraufführung), Melodram für Solo-Gitarre/Stimme, 12-stimmigen Frauenchor und Streichorchester, Marc Sinan, Gitarre, Dresdner Kammerchor und AuditivVokal, hat als einziges Stück Textbausteine, darunter Zitate von Politikern zu 1915 (Recep Tayyip Erdoğan, Cemil Çiçek, Cem Özdemir), aber auch zu den Gezi-Demonstrationen vom Frühjahr 2013 (daher den „Çapulcus“, dem „Gesindel“ vom Gezi Park, gewidmet), ein Textbaustein von Marc Sinan über seine islamisierte armenische Großmutter Vahide, gefolgt von der Sure „Ya-Sin“, die man auch für die Toten liest, sowie Helmut Oehrings Poem „du mensch verloren du so“. Pikant: Oehrings Stück klingt mit der Einspielung eines O-Ton-Zitats von Recep Tayyip Erdoğan aus, in dem dieser den Genozid leugnet.

Auch der armenische Dichter Rupen Sevak (bürgerlich Tschilingirian), einer der Opfer von 1915, hat breiten Eingang in das Textbuch von Helmut Oehrings Stück gefunden. Die Librettistin Stefanie Wördemann war auf Rupen Sevak durch unseren Artikel „Liebe in den Zeiten des Genozids – Der Dichter Rupen Sevag & Helene Apell“1, ADK 139, Jg. 2008/ Heft 1, gestoßen. Das Walter Oehrings Part vorangestellte Motto „Massaker, hört ihr MASSAKER!“ und Ruben Sevag betreffende Passagen stammen daraus. Auch konnten wir das Gedicht „Das letzte Wiegenlied“ ihr in der französischen Fassung zukommen lassen und den Kontakt zu Sevags Cousin und Nachlassverwalter Hovhannes Tschilingirian herstellen.

Die Uraufführung fand am 27. November 2015 im renommierten Kultur- und Veranstaltungszentrum RADIALSYSTEM V in Berlin statt und wurde einen Tag danach wiederholt. Weitere Aufführungen sollen am 30. April 2016 im Festspielhaus Hellerau Dresden, danach in Kooperation mit dem No Borders Orchestra in Belgrad, in der armenischen Hauptstadt Jerewan und in Istanbul folgen.

Besonders bemerkenswert ist, dass Deutschlandradio Kultur die Uraufführung mitgeschnitten und am 2. Dezember ausgestrahlt hat. Andrea Molino bescheinigte Financial Times ein „emphatisches Dirigat“, das Orchester habe feinfühlig gespielt und Marc Sinan mache eine gute Figur.

Nach Juliane Busses & Karsten Dehnings Projekt „Das Weinen bleibt in der Luft“ nach 12 Gedichten armenischer Lyriker (ADK 166, Jg. 2015/ Heft 1, S. 31) ist „AGHET – Die große Katastrophe“ das zweite Musikprojekt hierzulande, das aus Anlass von 1915 entstanden ist.