Hochfranken Feuilleton
Wegmarken für Mutmacher
7. Oktober 2025
Um am Nationalfeiertag das 35. Jubiläum der Wiedervereinigung zu begehen, hat die Stadt Hof die Dresdner Sinfoniker eingeladen. Zum ungewöhnlichen, begeistert beklatschten Konzeptkonzert gehören Inszenierungen: Eine Menschenmauer teilt den Saal, der Dirigent agiert von einem Wachturm herab.
Von Michael Thumser
Ist zusammengewachsen, was zusammengehört? In Deutschland, seit 35 Jahren wiedervereinigt, immerhin zum Teil. In der Freiheitshalle umso weniger. Dort spaltete sich am Freitagabend die Nation noch einmal, nicht an einer Todeszone, aber an einer kaum durchdringlichen Nahtstelle aus Menschen.
Anfang Oktober 1989 kamen in Sonderzügen die ersten DDR-Flüchtlinge aus der Prager Botschaft in der Stadt an und wurden mit Jubel und einer Flut der Hilfsbereitschaft überschüttet – Auftakt des welthistorischen Umbruchs, der ein Jahr später im Ende der Deutschen Demokratischen Republik und in der neuen deutschen Einheit mündete. Im Festsaal aber stehen die Zeichen auf Teilung. Wer Einlass finden will zum Gastauftritt der Dresdner Sinfoniker, muss es sich gefallen lassen, wahllos entweder in den ärmlichen „Osten“ oder den snobistischen „Westen“ der verwunderlich inszenierten Spielstätte bugsiert zu werden. Drinnen zerschneidet eine Mauer grau gekleideter junger Leute mit symbolischer Unverrückbarkeit den Raum von hinten bis ganz nach vorn und über das Podium hinweg. Grimmig streng bewachen Uniformierte die Demarkation. Ein Wachturm – Wegzeichen, Meilenstein, Orientierungsmal der DDR-Grenzbefestigungen – ragt en miniature an der Rampe auf: „Halt! Staatsgrenze! Passieren verboten!“
Über zwei Projektionswände, auf denen zunächst Schwarz-Rot-Gold mit und ohne „Hammer und Zirkel im Ährenkranz“ geprangt haben, flackern alsbald Uralt-Fernsehbilder aus gar nicht so lang vergangenen deutsch-deutschen Zeiten: schwarz-weiße Werbeclips der kapitalistischen Konsumgesellschaft versus Elogen auf Errungenschaften sozialistischer Ingenieurskunst; Ost-Mode aus dem Versandhandel („Vierzehn Tage Lieferfrist“) versus Farbfilterfolien für das Fernsehgerät der westlichen Wirtschaftswunderfamilie („vom Augenarzt empfohlen“); hier ein Ratgeber für „Reisen nach drüben“ und das „ZDF-Magazin“ des Kommunistenfressers Gerhard Löwenthal, dort Walter Ulbrichts Mauer, die „niemand“ zu errichten beabsichtigte, und der „Schwarze Kanal“ von „Sudel-Ede“ Schnitzler, der Gift und Galle geifert.
In Zeiten, da es die Klassische Musik beim Breitenpublikum immer schwerer hat, spezialisiert sich das Projektorchester in Dresden seit 1997 auf neue Tonkunst, auf Klänge aus entfernten Teilen der Welt – und auf Konzerte, die Konzepte sind. „Drüben“: So hat es ein Projekt betitelt, das am 3. Oktober 2022 im Kulturpalast (Dresden) über die Bühne ging und heuer von der Stadt Hof eingeladen wurde, als „Jubiläumskonzert zum 35. Tag der Deutschen Einheit“. Unter den 600 Besucherinnen und Besuchern im ausverkauften Festsaal finden sich kaum Damen und Herren, die hier als Abonnenten die Programme der ortsansässigen Symphoniker zu besuchen pflegen. Mithin ein ‚anderes‘ Konzert für ein unerwartet ‚anderes‘ Publikum: Tiefen Eindruck macht es auf unverhofft ‚andere‘, innovative und belebende Art.
„Hüben“ versus „Drüben“ – Nenas „99 Luftballons“ versus „Born in the G.D.R.“ der Cottbusser Band Sandow: „Wir können bis an unsere Grenzen gehen.“ Mit Liedern aus Ost und West vereinen sich Franziska Abram, erfrischend natürlich, und Cornelius Uhle diesseits und jenseits der Grenze – nämlich auf den Seitenrängen ganz links und ganz rechts – zur Ouvertüre aus historischen Hitparaden-Evergreens, für die sie eigentlich viel zu jung sind. Mit Bassklarinette und Flügelhorn werden sie von Georg Wettin und Markus Schwind begleitet, die sich danach fix in die Reihen des nur mit Holz- und Blechbläsern, Kontrabässen, Schlagwerk und Orgel besetzten Kammerorchesters eingliedern.
Denn nach dem Schlagerschmalz wird’s für die Ohren ernst. Zwei Werke aus jüngster Vergangenheit folgen, Auftragsarbeiten beide und 2022 uraufgeführt. Zunächst insistieren visionäre Harmonien, durch Überzeugungskraft bewegend: Der Münchner Markus Lehmann-Horn fasste seine Komposition denn auch unter der Überschrift „Utopian Melodies – yelling at Me“ zusammen, „Utopische Melodien rufen nach mir“. Oder „schreien mich an“? Denn Utopien – Ideale, Traumbilder, gesamtgesellschaftliche Wolkenkuckucksheime – erweisen sich schnell als vertrackt: Die meisten Menschen erklären sich mit ihnen einverstanden; die wenigsten erleben, dass sie wahr werden.
Tatsächlich malt Lehmann-Horns grandios komponierte, von den Sinfonikern (vor allem rhythmisch) virtuos dargestellte Satzfolge kein märchenbuntes Bild einer heilen Welt. „Stets drängend“, sogar dröhnend und pulsierend, führt Jonathan Stockhammer, auf dem stacheldrahtbewehrten Dach des Wachturms dirigierend, in unheilvolles Dunkel, durch das bald ein gellender Klangausbruch hallt. Wo sich etwa Flöten und Oboen Fröhlichkeit erlauben, tun sie es mit Schostakowitsch’scher Doppelbödigkeit. „Ruhig und fast geisterhaft“ widerstreiten im akkordischen Mittelteil gespenstische Stagnation und gedämpfte Turbulenz, als stellten sich die Musikerinnen und Musiker bang abwartend auf einen Überfall ein, der dann wirklich wild über sie hereinbricht, noch in verhalteneren Passagen unterschwellig auf Vernichtung pochend.
„Energetisch“ bringt der Schlusssatz die Menschenkette quer durch den Saal in Bewegung, um sie endlich niederzuringen: Vom Theater-Hof-Tänzer Ali San Uzer choreografisch angeleitet, sinken die Jungs und Mädchen zu Boden, während die Musik, durchsetzt von Anspielungen auf beide deutsche Nationalhymnen, mit dem Mut zu Pathos und Apotheose den Ton getragener Choräle anstimmt. Die Mauer ist gefallen. Man mag das für überdeutlich, sogar reißerisch halten; unmissverständlich in seiner Anschaulichkeit, nachhaltig in der Wirkung ists gleichwohl.
Dass die „Einheit in Freiheit nicht als Geschenk des Himmels über uns gekommen ist“, merkt Oberbürgermeisterin Eva Döhla mit Fug und Recht an: „Sie wurde von mutigen Menschen errungen.“ Das haben Lehmann-Horns „Utopische Melodien“ mit eindringlichen gestischen Mitteln illustriert. Und auch Charlotte Bray versuchte sich an einem angemessenen Tongemälde: „Landmark“ soll als Wegzeichen, Meilenstein, Orientierungsmal der Demokratie, Freiheit und Menschenrechtlichkeit unüberhörbar die Richtung weisen. Ein nervenzerrend dissonanter Zeitenwendepunkt: Mit grellen Flächen und Konturen will die Komponistin – wie sie schreibt – darauf verweisen, dass die „Hoffnung“ auf etwas vermeintlich „Undenkbares“ Wirklichkeit werden kann.
Die erneuerte nationale Einheit dokumentiert dann auch der Konzertsaal, der jetzt wieder so wie immer aussieht: Turm, ost-westliche Staffage und Statisterie sind weggeräumt. Stattdessen rollt ein großer Flügel aufs Podium, für Igor Strawinskys 101-jähriges Konzert für Klavier und Blasorchester und den so jovialen wie fingerflinken, zielgenau treffsicheren, rhythmisch rasanten und peniblen Pianisten Andreas Boyde. Zwischen die extrem komplexen Ecksätze schiebt er tief kontemplativ das Largo als ausdrücklichen und ausdrucksvollen Kontrast. Immer bewährt der imponierende Solist einen Anschlag, als ließe sich ein leichthändiger Mozart-Interpret auf Prokofjews Brutalismus ein. Überschwänglich applaudiert und johlt das Publikum, dem Vernehmen nach: ungeteilt.
