Der Sonntag
Spektakuläres Hochhaus-Konzert im Dresdner Plattenbaugebiet
17. September 2020
Wieder einmal haben die experimentierfreudigen Dresdner Sinfoniker für Aufsehen gesorgt: Für ein Konzert sind sie auf mehrere Hochhausdächer in Dresden-Prohlis gestiegen. Bläserinnen und Bläser füllten das Areal mit ungewöhnlichen Klängen.
Schwindelfreie Musikerinnen und Musiker brauchte es am Samstagabend: Wie auf einer Perlenschnur aufgereiht stehen sie auf dem Dach der Plattenbau-Hochhäuser, manche von ihnen in fast 50 Metern Höhe. Über ihnen nur der Himmel und manchmal eine Drohne, die surrend das Spektakel einfängt. Unter ihnen haben sich Anwohner auf Balkonen mit Markisen und Blumen eingefunden. Auch viele Fenster gehen auf. Aus einem weht ein „Danke“-Banner.
Die Dresdner Sinfoniker haben am Samstag mitten im Plattenbauviertel Dresden-Prohlis gespielt. Das experimentierfreudige Orchester unter Leitung seines Intendanten Markus Rindt hatte sich auf vier 17-Geschosser, weitere hohe Wohnhäuser und ein Parkdeck verteilt. Ihr spektakulärer Auftritt unter dem Motto „Himmel über Prohlis“ wurde begeistert aufgenommen. Das Publikum, das unter anderem auf dem zentralen Parkdeck Platz genommen hatte, winkte dankend zu den Dächern hinauf.
Das Open-Air-Konzert sei schon vor etwa einem Jahr geplant worden, sagte Rindt. Jetzt, mitten in Corona-Zeiten, habe es den Musikerinnen und Musikern ermöglicht, überhaupt wieder live vor Publikum auftreten zu können. Mit dem Projekt wollte das Orchester die sogenannte Neue Musik für ein breiteres Publikum öffnen. Bereits am Vormittag hatten kleinere Gruppen in den begrünten Innenhöfen der Plattenbauten gespielt.
Für das Abendspektakel war eine äußerst sorgfältige Vorbereitung nötig. Die Musiker waren nicht nur mit Kopfhörern ausgestattet, sondern auch mit Gurten, an denen sie auf den Hochhausdächern gesichert wurden. Zwölf professionelle Industriekletterinnen und -kletterer hatte das Orchester dafür engagiert. Sie versorgten auch die Kamerateams mit Sicherheitstechnik.
„Das war ein riesiges Experiment, über so große Entfernungen zusammenzuspielen“, sagte Rindt, sichtlich erleichtert nach dem ersten Stück. Möglich sei das nur Dank ausgeklügelter Technik gewesen. Diese habe ermöglicht, die Einsätze der Instrumentalisten aufeinander abzustimmen, ganz ohne Dirigenten. Die natürliche Schallverzögerung konnte so umgangen werden.
Das Programm erwies sich als ebenso ungewöhnlich wie das Ambiente. Auf die Fanfare, die John Williams für die Olympischen Spiele 1984 komponiert hatte, folgten Renaissancestücke in einer modernen Bearbeitung von Wieland Reißman für die Hochhaus-Bläserbesetzung sowie ein Stück für vier riesige chinesische Trommeln.
Höhepunkt war die Uraufführung eines Werkes für 16 Alphörner, neun Trompeten, vier Tuben, Trommeln und Schlagwerk. Der Münchner Komponist Markus Lehmann-Horn hatte es speziell für die Ausmaße der Dresdner Hochhaussiedlung geschrieben. 30 Minuten lang füllte es nun das Prohliser Areal. Die Alphörner – meterlange Rohre, verbreitet in der Schweiz, Österreich und Bayern – erklangen auf vier Hochhäusern. Die anderen Musikerinnen und Musiker waren auf weiteren Dächern und dem Parkdeck verteilt. Das in der DDR errichtete und später modernisierte Plattenbaugebiet Prohlis gilt als sozialer Brennpunkt. Unzählige Häuserzeilen aus Beton prägen das Bild. „Wir haben das Publikum dort abgeholt, wo es zuhause ist“, sagte Rindt: „Bei einem Spaziergang durch ihr Viertel oder auf den Balkonen ihrer Wohnungen.“
Der Gedanke, in Prohlis zu spielen, sei schon 14 Jahre alt. Damals wollten die Sinfoniker mit den Pet Shop Boys in der Plattenbausiedlung auftreten. Doch die „Hochhaussinfonie“ fand 2006 dann auf der Prager Straße im Stadtzentrum statt. Damals musizierten sie von den Balkonen der Hochhäuser, dieses Mal stiegen sie auf die Dächer. Über solche weiten räumlichen Entfernungen zu spielen, das habe wohl noch niemand gemacht, sagte Lehmann-Horn. Er habe den Klang seines Werkes dafür schwebend, zum Teil auch sirenenartig angelegt. Mit einem Zitat aus Ludwig van Beethovens neunter Sinfonie schließe das Stück versöhnlich.
Der Aufführungsort sei auch in Corona-Zeiten ideal, mitten im Viertel, kein Straßenlärm, genug Platz, sagte Rindt. Er dankte den Prohlisern für die Unterstützung. „Es ist großartig, wie Sie uns hier gewähren lassen“, sagte er: „Man sollte hier in Zukunft noch mehr Konzerte machen.“ Das Wohnungsunternehmen Vonovia stellte in Prohlis die nötigen Hochhausflächen zur Verfügung. Außerdem hilft Vonovia mit einer Geldspende von 15.000 Euro. „Himmel über Prohlis ist ein einzigartiges Musikerlebnis und ein kulturelles Highlight. So lässt sich das Quartier noch einmal von einer ganz anderen Seite erleben“, sagt Martina Pansa von Vonovia.
Von Katharina Rögner