Freie Presse
Alphörner im Hochhaus-Gebirge
14. September 2020
Die Dresdner Sinfoniker verwandeln mit ihrem Projekt „Himmel über Prohlis“ das Plattenbauviertel für einen Tag in eine hippe Konzerthalle.
Es ist mindestens olympiaverdächtig, was da am Samstagabend im Dresdner Plattenbauviertel Prohlis passiert: Prohlis, sonst eher in den Schlagzeilen als Ort der Abgehängten, ist Bühne für ein ungewöhnliches Konzertprojekt der Dresdner Sinfoniker. Und Prohlis macht sich ganz großartig als diese Bühne, verwandelt sich in die beste dafür vorstellbare Kulisse.
Die „Olympischen Fanfare“, die der amerikanische Komponist John Williams für die Eröffnung der Sommerspiele 1984 in Los Angeles geschrieben hatte, hallt gewaltig über Prohlis; denn die Hörner, Trompeten und Tubas schmettern von Hochhausdächern herab, die, als habe es der Architekt beim Entwerfen geahnt, wofür sie im Jahr 2020 dienen sollen, im Halbkreis um das Prohliser Einkaufszentrum angeordnet sind. Die eigentliche Bühne, umgeben von allerlei Technik, Richtfunkstrecken, ist auf dem Parkdeck des Einkaufszentrums aufgebaut. Die Fanfaren sind der bombastische Auftakt eines großartigen Konzerts. Geplant weit vor der Corona-Pandemie, erweist sich auch aus diesem Gesichtspunkt das Konzert als das Format der Stunde. Denn nicht nur stehen die Bläser, die als die aus Ansteckungsgesichtspunkten schwierigste Instrumentengruppe gelten, weit, sehr weit voneinander entfernt auf verschiedenen Hochhausdächern – auch das Publikum sitzt in bequem großen Abstand auf dem riesigen Parkdeck, verteilt sich darüber hinaus auf Balkons, auf Straßen, Vorplätze und Grünanlagen. Es sind viele, sehr viele, die diesem Ereignis beiwohnen. Schon seit dem Vormittag, als die Sinfoniker einige Konzerte in den Innenhöfen des Stadtviertels geben, sind die Prohliser auf den Beinen, 15 Uhr kommen Artisten des Zirkus „FahrAwaY“ vorbei als Teil der Theaterspielzeiteröffnung; diese ganz besondere Stimmung aus Aufregung, ungläubigem Staunen, dass so viele Menschen, Fernsehteams, Übertragungswagen hierher kommen, ist überall zu spüren. Handyfotos werden in alle Richtungen geschossen, die Überraschung ob der Menschenmassen geteilt. Mit der „Olympischen Fanfare“ entlädt sich auch die Spannung in eine einzige Begeisterung und Freude daran, bei diesem Ereignis dabei zu sein. Und es hat funktioniert. Dem Intendanten der Dresdner Sinfoniker Markus Rindt ist die Erleichterung anzumerken. Denn man konnte, außer einem Soundcheck, nicht wirklich vorher proben und am Klang arbeiten. Die über Hunderte Meter voneinander entfernt stehenden Musiker hätten sich nicht dirigieren lassen – zu unterschiedlich lang würde der Schall brauchen, um die Ohren zu erreichen und dort eher eine Kakofonie als einen Wohlklang auslösen.
Markus Rindt sprühte auch vor riesengroßer Freude darüber, dass seine Idee, die er seit fast 15 Jahren mit sich herumtrug, endlich Wirklichkeit geworden ist. Denn eigentlich wollte er schon mit der „Hochhaussinfonie“ 2006 nach Prohlis kommen, das ließ sich damals aber nicht realisieren und er wich mit seinen Sinfonikern, dem Pop-Duo Pet Shop Boys und dem Film „Panzerkreuzer Potemkin“ auf die Prager Straße als beeindruckende Filmkonzertkulisse aus. Doch der Traum, Alphörner über Hochhausschluchten klingen zu lassen, ließ ihn nicht los. Im Intendanten des Societaetstheaters Andreas Nattermann und dem Wohnungsunternehmen Vonovia fand er schließlich Partner fürs Organisatorische, in Markus Lehmann-Horn den geeigneten Komponisten für das Projekt. Es galt, zahlreiche Geldgeber zu überzeugen, Industriekletterer zu finden, die die Musiker auf den Dächern absichern, Kamerateams zu koordinieren, um das Ereignis zu dokumentieren – man möchte in den letzten Monaten nicht in Markus Rindts Haut gesteckt haben. Aber es ist ihm und seinen Sinfonikern wieder einmal gelungen, aus zeitgenössischer Kunst ein Ereignis werden zu lassen, das noch lange nachhallen wird. Nicht nur in den Häuserschluchten von Prohlis, sondern auch im Gedächtnis seiner Bewohner.
Wer glaubt, das Ganze habe nur Eventcharakter, irrt. Spätestens mit den Kompositionen des Venezianers Giovanni Gabrieli, die dieser vor etwa 450 Jahren für den Markusdom geschaffen hatte und mit der instrumentalen Mehrchörigkeit gleichsam das Dolby-Surround-System heutiger Tage vorwegnahm, überzeugen die Sinfoniker auch künstlerisch. Für die dafür notwendige Präzision, für das Wagnis zu spielen, ohne die anderen zu hören, den Einsatz nur über ein Klickgeräusch zu bekommen, genügt es nicht, „nur“ ein sehr guter Musiker zu sein. Es braucht Erfahrung mit der Technik und Vertrauen zur musikalischen Leitung (Einstudierung: Premil Petrovic).
Als Höhepunkt und Abschluss folgt – nachdem auch das Dà-Gû- Quartett, das riesige chinesische Trommeln bespielt, einen beeindruckenden Soloauftritt hatte – die Uraufführung von Lehmann-Horns Komposition „Himmel über …“, für Alphörner, Trompeten, Tubas und Dà-Gû-Quartett. 35 Minuten lang schälen sich aus zunächst drohend dunklen Tönen Anklänge an Tanz- und Marschmusik heraus, setzen sich Variationen aus Beethovens „Freude, schöner Götterfunken“ durch. Wer wollte, konnte in diesen 35 Minuten viele Anspielungen an deutsche Geschichte und den sie begleitenden Soundtrack erkennen. Oder aber den Augenblick genießen, schwelgen im Klang wohlgesetzter Hörner und Trommeln, vermischt mit Lachen, Rufen, Satzfetzen – den Geräuschen eines Wohnviertels. Nach dem letzten Ton setzt langer Beifall ein, auf dem Parkdeck, von den Balkons, aus einem Fenster wird ein „Danke“-Bettlaken entrollt, die Musiker auf den 17-Geschossern schwenken ihre Alphörner – der Himmel über Prohlis, auch er hat sein Bestes gegeben, um dieses Ereignis unvergesslich sein zu lassen.
Von Katja Solbrig