Süddeutsche Zeitung

Maestro Maschine

14. Oktober 2024

In Dresden dirigiert ein Roboter Werke, die als unaufführbar galten. Das ist ein technischer Fortschritt, der die Musik grundlegend verändern könnte.

Von Helmut Mauró

Eigentlich noch immer eine gruselige Vorstellung, dass anstelle eines genialen Dirigenten vor dem Orchester plötzlich eine Maschine steht. In sterilem Weiß, ein Leuchtstäbchen in der Stahlkralle. Im Blick zum Pult liegt der Phantomschmerz: Wo ist der Mensch?

Im Festspielhaus von Dresden-Hellerau übernimmt an diesem Abend ein Roboter die Chefposition. Ein dreiarmiges niedliches Monster, das so tut, als sei es so eine Art Mensch. „MAiRA Pro S“ heißt die Maschine. Das klingt wie katholische Stoßseufzer: Maria hilf, ora pro nobis – bitte für uns. Am Ende drehen sich die drei Maschinenarme sogar zum Publikum und erwarten Applaus. Und sie bekommen ihn. Die Halle tobt. Dieses Denkmal einer Reformarchitektur ist Schauplatz einer kleinen Revolution, die sich zu Größerem auswachsen könnte.

Die Hierarchie hat sich verkehrt: Der Roboter befiehlt, die Musiker folgen

An der Rückwand des hohen weißen Raumes, die nun in mildes weiches Licht getaucht ist, stehen die Schlagzeuger, sie benötigen die ganze Breite des Saales. Davor sitzen sieben Hornisten, seitlich positionieren sich weitere Bläser, links die Basstuben, rechts Trompeten. Sieben Uraufführungen gibt es an diesem Abend, darauf sind die Dresdner Sinfoniker seit ihrer Gründung vor 20 Jahren spezialisiert, und drei dieser Stücke wird MAiRA dirigieren.

Noch ist es so, dass man ihr jede einzelne Bewegung eintrichtern muss – Arm nach oben, langsam nach links, wieder zurück. Markus Rindt, ehemaliger Hornist und Intendant der Dresdner Sinfoniker, die das Projekt auf die Beine gestellt haben, hat unter Anleitung des Entwicklungsteams der Dresdner TU die Musikstücke vordirigiert, damit sie der Maschine als Vorlage dienen. Mit den nun gespeicherten Bewegungsabläufen, sagt Forschungsleiter Frank Peters, wird die Maschine künftig auch ohne menschliche Hilfe dirigieren können. Der Tag ist also nicht mehr weit, da man dem Roboter eine Partitur hinlegt und er anfängt zu dirigieren.

Der Moment, in dem die Dirigiermaschine selbständig handeln kann, könnte bei der Geschwindigkeit, mit der künstliche Intelligenz inzwischen lernt, schon bald eintreten. Spätestens dann müssen Fragen beantwortet werden, die sich jetzt schon stellen. Wird hier nicht ein Lebens- und Erlebnisbereich industrialisiert, der dem Menschen vorbehalten sein sollte? Was definiert den Menschen noch als Menschen, wenn die Maschine alles genauso gut oder sogar noch besser kann? In den letzten Jahrtausenden ging es eher um die Frage, was den Menschen vom Tier unterscheidet. Hier sind die Fronten schon gebröckelt, der Abstand ist merklich geschrumpft, es gibt kaum noch eine Eigenschaft, die man inzwischen nicht auch beim Tier nachgewiesen hat. Wissenschaftler sagen – noch behaupten sie es – es seien die Imagination, der Humor und die Musik, die den Menschen ausmachen vor allen anderen Lebewesen.

Im Gegensatz zum Industrieroboter, der die Menschen ersetzt und nicht wahrnimmt, ist die Dirigiermaschine, die in Dresden auftritt, auf Menschen ausgerichtet. Sie unterbricht sogar ihre Bewegungen, wenn sich ein Mensch ihr nähert. Das Machtverhältnis hat sich dennoch ins Gegenteil verkehrt. Bislang war die Sache relativ klar: Der Roboter arbeitet, das sagt ja schon der Name, und der Mensch gibt Befehle. Und nun? Scheint seine Herrschaft in seinem ureigensten Territorium gefährdet, die Befehlskette durchbrochen und ins Gegenteil gekehrt.

Liebt man die Kunst nicht gerade als Gegenpol zur Maschinenperfektion?

Genau dies erzählt die Dirigiermaschine MAiRA an diesem denkwürdigen Abend: Ich dirigiere, du spielst. Und dann winden sich ihre kalten Kunststoffarme um die Musik und zerschneiden den Klang von Wieland Reissmanns „#kreuznoten“ – nach Conlon Nancarrows Canon X für Player Piano – in winzige Häppchen, jeder kleine Schlag ein Treffer. Über die Gesichter der Musikersklaven fliegen Grimassen der Belustigung und der Demütigung. Aber sie spielen perfekt, soweit man das bei dieser hochkomplexen Neukomposition sagen kann. Dabei überkreuzen sich zwei Abteilungen des Orchesters im Tempo ihres Spiels, der eine Teil beginnt langsam und wird schneller, der andere stürzt sich rasant ins Geschehen und bremst dann immer mehr ab. Ein Mensch könnte solch komplexe Kompositionen, zumal wenn gleichzeitig mehrere unterschiedliche Rhythmen ins Spiel kommen, kaum noch präzise dirigieren. Damit ist die Bruchstelle einer langen Tradition auch gleich definiert. Es sind nun Kompositionen möglich, die bisher unaufführbar waren.

Das wäre wahrlich eine historische Wende, vergleichbar jener der Erfindung der modernen Notenschrift. Die ermöglichte erstmals vielstimmige komplexe Strukturen. In der Komposition und Klangerzeugung sind computergestützte Technologien ohnehin schon weiter. Für einen Film-Soundtrack etwa braucht man inzwischen kein Sinfonieorchester aus echten Menschen mehr, der human factor des Dirigenten ist dabei auch gleich eliminiert. Aber geht es in der Musikkunst nicht genau um diesen menschlichen Faktor? Vor allem bei einer Aufführung? Wie groß soll oder muss der sein? Was ist das Eigentliche, das man von der Musik erwartet, worum geht es? Was kann uns die Musik erzählen? Welche Lebenserfahrung hat die Aufführenden geprägt, welche Visionen treiben sie an? Das wären Fragen an einen Menschen, die man für die Maschine nicht beantworten kann. Sie versteht nichts. Sie hat nichts erlebt. Sie führt Bewegungen aus, weil ihr das Programm das so vorgibt, nicht ein Herz oder eine Seele.

Vielleicht kann auch sie durch ihre Stärken – ein unvorstellbares Maß an Perfektion etwa – so etwas wie eine Vision vermitteln. Absolute Perfektion hat ja durchaus einen ästhetischen Wert. Sie fasziniert in technischen Neuerungen und Performances, die für viele Menschen schon Kunstcharakter haben. In der Kunstwelt dagegen, zumal in der Musik – sofern sie nicht schiere Unterhaltung sein soll – suchen viele Menschen ein sentimentales Gegengewicht zur Maschinenwelt, eine Gefühlsidylle, eine Nische der Gemütlichkeit und gemäßigten Irritation.

Die gibt es auch in Hellerau, und zwar in „Semiconductor’s Masterpiece“ des Komponisten und Jazz-Pianisten Andreas Gundlach. Der dreiarmige Roboter dirigiert dabei ein in sich geteiltes Ensemble mit unterschiedlichen Zeitmaßen auf verschlungenen melodischen Pfaden. Auch hier müssten drei Dirigenten exakt zusammenarbeiten, um die Arbeit der Maschine bewältigen zu können. Jede Instrumentengruppe folgt einem der drei Roboterarme. Nur die Schlagzeuger müssen ständig hin- und herwechseln, was sie gehörig ins Schwitzen bringt. Während der Proben soll es nicht nur fröhliche Gesichter gegeben haben, sondern auch Seufzer und ein paar Flüche.

Am Ende ist man aber doch froh, dass der leibhaftige norwegische Dirigent Magnus Loddgard wieder auf die Bühne kommt, und der „Musica Celestis“ von Aaron Jay Kernis zu sphärischer Verträumtheit verhilft. Nein, das kann die Maschine nicht, sie wird es nie können, auch weil die Menschen das gar nicht wollen. Dennoch: Das Spiel ist Ernst geworden, aus den einst lustig blinkenden Metallfiguren aus der Mythenwelt der Science-Fiction sind maschinelle Wesen erwachsen, die dem Menschen nicht nur helfen, sondern auch mit ihm in Konkurrenz treten und ihn in seinem Selbstverständnis erschüttern. Aufhalten lässt sich das nicht. Wenn eine Dirigiermaschine den Job besser erledigt als ein genialischer Mensch, dann wird sie – an dessen Stelle oder als Co-Dirigent – auch eingesetzt werden. Die Diskussion über die Grundfragen musikalischer Ästhetik ist vielleicht der größte Nutzen, den uns MAiRA beschert.