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Brennende Herzen gegen Massaker und Mauerbau

02. Juli 2018

Die Dresdner Sinfoniker könnten heute ihr 20jähriges Bestehen feiern. Könnten, doch das dazugehörende Geburtstagskonzert soll es erst Anfang November geben. Dann aber mit einem spannungsvollen Programm, zu dem reichlich Druckluft sowie Uraufführungen gehören werden. Darunter auch eine Rockoper mit gesellschaftlichem Engagement.

Eine Band wollten sie gründen, herausgekommen ist ein ganzes Orchester. Ein virtuelles Orchester, dessen Musikerinnen und Musiker hauptsächlich in den großen Dresdner Klangkörpern wie Philharmonie und Staatskapelle, aber auch in Berlin, Wien und andernorts tätig sind. Für spezielle Projekte jedoch treffen sie sich als Dresdner Sinfoniker und gastieren mit ihrer meist recht speziellen Musik in (fast) aller Welt.

Genau heute vor 20 Jahren gab es das Gründungskonzert im Dresdner Kulturpalast, es stand unter der Schirmherrschaft von Yehudi Menuhin, weil der von der grenzübergreifenden Gründungsidee der beiden Initiatoren sofort überzeugt gewesen ist. Selbst Ulrich Wickert berichtete schon am Vorabend in den Tagesthemen von der auf Sven Helbig und Markus Rindt zurückgehenden Initiative. Helbig hat das Ensemble inzwischen zugunsten eigener Projekte verlassen, Rindt ist Intendant der Sinfoniker und hat die zwei Jahrzehnte gestern schon mal Revue passieren lassen.

Für das allererste Konzert ist Dirigent Jonathan Nott aus Luzern nach Dresden gekommen, bald darauf gab es mit „Mein Herz brennt“ zu Texten der Band Rammstein, die der Komponist Torsten Rasch neu vertont hatte, großes Aufsehen weit über Genre- und Landesgrenzen hinaus. Die wohl gravierendste Folge war ein Anruf der Pet Shop Boys, mit denen wenig später Raschs Filmmusik zu Sergej Eisensteins Opus „Panzerkreuzer Potemkin“ auf dem Londoner Trafalgar Square aufgeführt worden ist, vor rund 35 000 Menschen. Daraus wurde zur 800-Jahr-Feier von Dresden dann die spektakuläre „Hochhaussinfonie“ auf der Prager Straße, ebenfalls gemeinsam mit den Pet Shop Boys. Nach einem aus London übertragenen Ferndirigat von Gründungsmitglied Michael Helmrath und massenkompatiblen Kompositionen wie der Ouvertüre zu „Star Wars“ von John Williams wuchs in jüngerer Zeit das gesellschaftspolitische Engagement der Sinfoniker. Und damit auch deren Mut und Risikofreude sowie die internationale Beachtung.

Insbesondere seit der deutsch-türkische Musiker Marc Sinan zu den Dresdner Sinfonikern gestoßen ist, gibt es enge Kontakte in Länder des Mittleren und Nahen Ostens sowie nach Mittel- und Südamerika. Mit Großprojekten wie „Hasretim – eine anatolische Reise“, der „Symphony for Palestine“ sowie dem interkontinentalen Konzert auf das Ende des Maya-Kalenders (und dem damit bevorstehenden Weltuntergang) erspielten sich die Sinfoniker ein internationales Publikum. Einen herausragenden Stellenwert in der Orchestergeschichte nahmen 2016 „Aghet“ als Erinnerung an den türkischen Genozid von 1915 (dem Hunderttausende Armenier zum Opfer fielen) und im vergangenen Jahr „Tear down this Wall“ ein, eine Anklage gegen den von US-Präsident Trump geplanten Mauerbau an der mexikanischen Grenze.

Wer in den 20 Jahren seines Bestehens eine solche Erfolgsgeschichte aufzuweisen hat, muss das Jubiläum natürlich zünftig feiern. Die Dresdner Sinfoniker werden dies nicht heute tun, sondern mit einem musikalischen Fest am 1. November im Erlwein Capitol nachholen, versprach Intendant Rindt gestern Mittag. Das Konzert bildet gleichzeitig die Eröffnung der Jazztage Dresden. Drei große Vorhaben kündigte Rindt für dieses Jubiläumskonzert an, zunächst einen Ausflug in die „Yellow Shark“-Welt von Altmeister Frank Zappa, der von den Sinfonikern gemeinsam mit dem Druckluft-Orchester von Peter Till ausgetragen werden soll. Mit den beiden in Dresden ausgebildeten Pianisten Andreas Gundlach und Andreas Boyde gibt es „Quartüürium“ für Klavier, Synthesizer und Orchester, das Gundlach gestern in ganz kurzen Kostproben bereits vorgestellt hat. Den krönenden Abschluss der Geburtstagsmusik wird „El Resplandor de los Disidentes“ des mexikanischen Komponisten Enrico Chapela darstellen, eine Rockoper über das im Oktober 1968 an protestierenden Studenten verübte Massaker von Mexico City. Die musikalische Leitung dieses Mammut-Unterfangens zum Geburtstag der Dresdner Sinfoniker übernimmt mit dem serbischen Dirigenten Premil Petrovic der Gründer und Chefdirigent des No Borders Orchestra, ein guter Bekannter des klangreichen Jubilars.

Von Michael Ernst