Neues Deutschland

Trommelfeuer des Protests

Uraufgeführt im Berliner Radialsystem V: Helmut Oehrings »Massaker, hört ihr MASSAKER!« – Von Stefan Amzoll

Im Gang des Foyers blickte einem auf gereihten Fotos das ganze Elend dieser Welt an. Frank Schultze und Christoph Püschner haben diese Bilder in Armuts-, Kriegs- und Fluchtregionen gemacht. Die Gesichter, die Zerstörungen gehen ins Mark, der Betrachter kann – anders als im Fernsehen – länger als zehn Sekunden davor innehalten. Nicht alle Augen der Besucher waren offen dafür. Die Fotos wiesen auf das Kommende.

In Rede steht ein Projekt der Dresdner Sinfoniker zur Geschichte und Kultur Anatoliens und der Kaukasusregion, das jetzt in Berlin mit dem dritten Teil endete. Dem wohl erregendsten. Unter dem Doppeltitel »aghet – ağit« – die Wörter stehen für Katastrophe und Klage – thematisiert er den Völkermord an den Armeniern vor hundert Jahren und dessen aktuelle Reflexion. Noch bis in die Zeit des in der Türkei hoch verehrten Atatürk zog er sich hin, was die Offizialität des Landes ebenso hartnäckig verschweigt wie das Massaker 1915 selbst, das größte Verbrechen an Zivilisten während des Ersten Weltkriegs.

Drei Werke kamen im Saal des von Markus Rindt engagiert geleiteten Radialsystems V, einem nahe dem Berliner Ostbahnhof gelegenen einstigen Abwasserpumpwerk, zur Aufführung (Korrektur: Markus Rindt ist der Intendant der Dresdner Sinfoniker, das RADIALSYSTEM V wird von Jochen Sandig und Volkert Uhde geleitet). Zunächst in Aktion die Streicher der Dresdner Sinfoniker und des No Borders Orchestra mit Musikerinnen und Musikern aus Armenien, Serbien, Bosnien der Türkei und Deutschland. Unter Dirigent Andrea Molino, einem Musiker von starker körperlicher Ausstrahlung, erklangen die »Notes from the Silent One« der aus Izmir (Türkei) stammenden Komponistin Zeynep Gedizlioğlu. So schön und traurig-freundlich das Antlitz dieser 1977 geborenen Künstlerin, so ausdrucksvoll ihr fünfzehnminütiges bogenförmiges Streicherstück. Wie zärtliche Winde geht über weite Flächen eine Empfindsamkeit, die erst spät in Spuren von Turbulenzen und Tragödien mündet, um hernach zu den Ausgangspunkten der Ruhe, der Hoffnung, der Friedfertigkeit zurückzukehren. Ein moderne Techniken der Streicherbehandlung sinnvoll einbeziehendes Werk.

Anders das folkloristische, religiöse, barocke Topoi integrierende »Surgite Gloriae« mit Duduk, Hornsolo, Glockenspiel, Sprech- und Singstimmen des Armeniers Vache Sharafyan. Merkwürdig dies Gebilde, es erhielt viel Beifall.

Dann singt, röhrt, schlägt es, schneidet ein, zeigt unverhüllt, entblößt, mahnt – leises Singen im Tumult –, stemmt sich gegen die ungesühnte Schandtat. Musik aus den Fugen und voller Leidempfinden. In Helmut Oehrings Massaker, hört ihr MASSAKER! für Sologitarre und -stimme, zwölfstimmigen Frauenchor und Streichorchester haust der Schlagabtausch. Die Streicher begehren rhythmisch auf, statt die Saiten zu liebkosen. E-Gitarre und Stimme des Marc Sinan sind tragende Säulen der Komposition, zu der Stefanie Wördemann zusammen mit Oehring eindringliche Dokumente ausgesucht hat, so verachtenswerte wie widerständige: Dichtung des Armeniers Rupen Sevag, Alltagssprache verarbeitende Poesien des Komponisten, Rufe des von Erdoğans Vasallen so bezeichneten »Gesindels« vom Gezi Park, wo Tausende wider das türkische Verbrecherregime protestierten. »Das ist erst der Anfang. Der Widerstand geht weiter«, schreit es in der Mitte.

Direkt ausgestellt die verbalen Manöver der Leugnung des Völkermords, in dem die heutigen Morde und kriegerischen Attitüden ihren Ausgangsort haben. Die Damen des Dresdner Kammerchores und des Ensembles AuditivVokal gaben ihr Bestes, diesem Trommelfeuer des Protests standzuhalten. Eine ganz starke Aufführung, die zu wiederholen zur Pflicht werden müsste.