Spiegel Online

Streit um Dresdner Musikprojekt : „Das kann nicht hingenommen werden“

25. April 2016
Ein Interview von Nataly Bleuel

Der türkische Botschafter in Brüssel beschwert sich über ein Dresdner Musikprojekt – und die EU-Kommission entfernt prompt einen Hinweis des Stücks von ihrer Homepage. Was sagen die künstlerischen Leiter von „Aghet“ dazu?

Markus Rindt, 48, ist Intendant der Dresdner Sinfoniker. Marc Sinan, 39, ist Musiker. Ihr Projekt „Aghet“ soll Ende April in Dresden Premiere feiern und anschließend auch in Istanbul und Erewan aufgeführt werden.

SPIEGEL ONLINE: Herr Rindt, worum geht es bei dem Musikprojekt „Aghet“?

Rindt: „Aghet“ thematisiert den Völkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich, der vor hundert Jahren stattfand, uns geht es um Versöhnung. Das Orchester besteht wie ähnliche Projekte der Dresdner Sinfoniker aus verschiedenen Nationen: Neben türkischen, armenischen und deutschen Musikern wirken hier auch Musiker des „No Borders Orchestra“ mit; sie stammen aus den ehemaligen jugoslawischen Teilrepubliken.

SPIEGEL ONLINE: Was bedeutet „Aghet“?

Rindt: „Aghet“ steht im Armenischen für Katastrophe. Wir haben den armenischen Begriff mit dem türkischen „at“ gekoppelt, das mit Klagelied übersetzt werden kann.

SPIEGEL ONLINE: Das Projekt wird auch von der EU finanziert. Die EU-Vertretung der Türkei in Brüssel hat nun verlangt, die Finanzierung einzustellen . Haben Sie damit gerechnet, dass es Ärger geben könnte?

Sinan: Wir haben damit gerechnet, dass es schwierig sein könnte, in der Türkei zu spielen und sorgfältig daran gearbeitet, dass eine Aufführung möglich wird. Sie soll im November in Istanbul stattfinden. Mich überrascht das Vorgehen der Türkei auch insofern, da die Öffentlichkeit für das Thema ja viel größer wird. Die türkische Seite wollte offenbar verhindern, dass dieses Projekt publik wird und forderte die EU-Kommission auf, dafür zu sorgen, dass möglichst wenig darüber an die Presse gelangt.

SPIEGEL ONLINE: Wann ist das passiert?

Sinan: Vor zwei, drei Wochen fanden die ersten Versuche der Einflussnahme auf die EU-Kommission auf höchster Ebene statt. Wir haben es aber auch nur durch Nachhaken erfahren. Man wollte offenbar nicht, dass das alles an die Öffentlichkeit dringt. Gerade zum Besuch der Bundeskanzlerin in der Türkei.

Rindt: Die Türkei finanziert „Aghet“ mit. Das Projekt wurde vor allem möglich durch die Unterstützung des Kulturprogramms der Europäischen Union, „Creative Europe“. Sie bewilligten 200.000 Euro und die Türkei zahlt in den Fördertopf der EACEA (Exekutivagentur der EU für Bildung, Audiovisuelles und Kultur Anm. d. Red.) ein. Weiterhin haben wir die Unterstützung des Hauptstadtkulturfonds, der Landeshauptstadt Dresden, der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen, der Kulturstiftung der Dresdner Bank, des Fonds Soziokultur, der Bundeszentrale für Politische Bildung und des Auswärtigen Amts.

SPIEGEL ONLINE: Wie hat die EU-Kommission reagiert?

Rindt: Wir sind froh, dass sich die EU-Kommission und die die Kooperationsprojekte fördernde Exekutivagentur EACEA trotz der Intervention der türkischen EU-Vertretung hinter uns gestellt und eine Streichung des Zuschusses ausgeschlossen haben. Aber nachdem die türkische Seite damit drohte, die Einzahlung ihrer Beiträge in den Topf der EACEA einzustellen und auch die EU-Beitrittsverhandlungen der Türkei infrage zu stellen, entschied sich die EU-Kommission, die Beschreibung unseres Projektes von ihrer Seite zu nehmen, um diese sprachlich „zu entschärfen“.

SPIEGEL ONLINE: Laut EU-Kommission, weil darin der Begriff Völkermord benutzt wird.

Sinan: So ist es. In der Projektbeschreibung haben wir beim Namen genannt, worum es geht. Dieser Text wurde nun gelöscht. Das ist ein massiver Eingriff in die künstlerische Meinungsfreiheit. Und eine Beleidigung der Opfer und ihrer Nachfahren. Das kann nicht hingenommen werden und daher haben wir uns entschieden, die Affäre öffentlich zu machen.

SPIEGEL ONLINE: In einem offenen Brief an Bundeskanzlerin Merkel schreibt Can Dündar, Chefredakteur der türkischen Zeitung „Cumhuriyet“ und von Präsident Erdogan unter anderem wegen Spionage angeklagt: „In der Türkei herrscht ein Kampf zwischen Demokraten und Autokraten. Es ist ein Ringen auf Leben und Tod zwischen jenen, die für Grundrechte einstehen, für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Pressefreiheit, Säkularismus – und anderen, die an Krieg, Unterdrückung und radikale Ideologien glauben. In dieser historischen Schlacht stehen Sie und Ihr Land leider auf der falschen Seite.“

Sinan: Ich bin pessimistischer als Dündar, ich denke die Türkei hat längst eine Grenze überschritten. Und die Appeasement-Politik durch die Bundesregierung und die EU wird dazu führen, dass sich die Katastrophe vielleicht verzögert – aber dafür um so größer wird.

SPIEGEL ONLINE: Was für eine Katastrophe?

Sinan: Das Vorgehen gegen die Kurden, die Unterdrückung aller oppositionellen Kräfte, der Wandel zum Autoritarismus, der „Flüchtlingsstrom“ nach Europa. Es wird eine Katastrophe, weil die Türkei die Integrität des Nationalstaats über die Menschen gestellt hat: nicht der Staat dient dem Bürger, der Bürger hat dem Staat zu dienen oder er darf in ihm nicht leben.

SPIEGEL ONLINE: Wie sollte sich Deutschland, wie die EU Ihrer Meinung nach verhalten?

Rindt: Deutschland und die EU müssen sich im Bezug auf den Völkermord eindeutig positionieren. Dies gebietet allein schon unsere eigene Geschichte. Ohne eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und ohne die Bereitschaft der Türkei, die damaligen Geschehnisse als das zu bezeichnen, was sie waren, wird eine Versöhnung nicht möglich sein…

Sinan: …nicht mit den anderen und nicht mit der eigenen Geschichte. Daraus entstehen immer neue Katastrophen, wie der Umgang mit den Kurden oder das Erstarken des IS. Aber wir fühlen uns der Vision von Frank-Walter Steinmeier verbunden, dass kulturelle Arbeit sich auch mit Träumen und Traumata auseinandersetzt und nur dadurch zu besserem gegenseitigem Verständnis kommen kann.

SPIEGEL ONLINE: Macht Ihnen die Situation Angst?

Rindt: Die versuchte Einflussnahme erst auf deutsche Satiriker, dann auf Kulturprojekte kann nicht hingenommen werden. Vielleicht eröffnet unser Projekt aber auch eine Chance, die Diskussion in Deutschland und Europa zu diesem Thema zu beleben. Das wäre für mich eine Hoffnung.
Sinan: Die Angst der Bevölkerung ist die Kraft, aus der sich die Macht der türkischen Regierung speist. Die Angst der Menschen, es könnte schlechter werden, wenn die Regierung zornig ist, die Angst der Intellektuellen vor dem Gefängnis. Die Angst der Mutigen, wie Hrant Dink , getötet zu werden. Stellen Sie sich eine Türkei vor, in der morgen früh jeder Mensch aufstehen würde und angstfrei sprechen und handeln würde. Ich möchte davon träumen, es wäre ein glückliches, ein freies, ein friedliches Land.
SPIEGEL ONLINE: Auch vor einem Jahr, 100 Jahre nach der Katastrophe, bei der anderthalb Millionen Menschen ermordet wurden, haben Sie im Zusammenhang mit Ihrem Stück „KOMITAS“ von Genozid gesprochen. Welche Reaktionen gab es damals?

Sinan: Da kamen ein paar böse Mails, das wars. Zum hundertsten Jahrestag war die internationale Aufmerksamkeit zu groß. Und die Türkei hat sich noch nicht so viel Einflussnahme herausnehmen können wie heute.