Dresdner Neueste Nachrichten

Bewegender Brückenschlag

11. Oktober 2010

Es ist schon eher eine Seltenheit, dass sich die Dresdner Sinfoniker eine fertige Partitur aufs Dirigentenpult legen. Neben dem musikalischen Ergebnis zählt immer der Innenblick in musikalische Kulturen, die wir viel zu selten zu Gehör bekommen. Die Sinfonikerkonzerte sind mit lange gehegten und mit Nachdruck verfolgten Ideen verbunden, für die Initiator und Intendant Markus Rindt einsteht. So entstand in enger Zusammenarbeit mit dem Europäischen Zentrum der Künste Hellerau das Projekt „Hasretim – eine anatolische Reise“, das bei den TonLagen im Festspielhaus Hellerau uraufgeführt wurde.

Wie zeitaktuell das Werk war, lässt sich anhand der Terminlage verdeutlichen: Tags zuvor spielte die Nationalmannschaft in Berlin gegen die Türkei, zudem war der türkische Ministerpräsident Erdogan bei der Kanzlerin zu Gast. Eine Integrationsdebatte wird auf politischer Ebene schon lange im Land geführt. Dass dazu zwingend auch die inspirative, auch experimentell geführte Auseinandersetzung zwischen den Kulturen gehört, ist die wichtige Botschaft des Konzertes. Über einen längeren Zeitraum fuhr Rindt mit dem deutsch-türkischen Komponisten und Musiker Marc Sinan und einem Kamerateam an die Schwarzmeerküste und in den inneren Nordosten der Türkei und zeichnete Gesänge und Tänze der Einheimischen auf. Es zählte nicht unbedingt der musikethnologische Anspruch, dafür ist die musikalische Landkarte zu vielschichtig. Was entstand, ist eine Art tönendes Skizzenbuch der Reise, das in Konzertform mit Video und großem Kammerensemble wieder neu zusammengesetzt wurde. Dabei wurde die Reiseroute zwischen Ordu, Erzurum und Kars beibehalten – seien wir ehrlich, kennt einer der bekennenden Türkeiurlauber diese auch historisch bedeutsamen Orte überhaupt? Geschweige denn die Musik, die über die Generationen hinweg weitergetragen wurde und die hoffentlich als kulturelles Erbe auch erhalten wird. „Hasretim“ leistete dazu einen wertvollen Beitrag. Marc Sinan schuf eine Partitur, die zwischen den Originalaufnahmen und der Live-Musik des Ensembles changierte, sich aber nur selten wesentlich vom Charakter der Volksmusik entfernte, lediglich ein jazziges Klaviersolo wirkte etwas eigenartig im Zusammenhang. Im Gesamteindruck hätte eine bessere Verstärkung einiger Instrumente (Flöte, Kaval, Streicher) die Strukturen noch transparenter gemacht.

Sinans Musik zeichnet behutsam nach und hat damit die Wirkung eines Spiegels oder Kommentars, zudem funktionierte die „Integrationspolitik“ im Orchester einwandfrei: Türkische und armenische Gastmusiker saßen mit im Ensemble; die Kollegen der Sinfoniker indes hatten die respektable Aufgabe, sich fernab einer wohltemperierten Stimmung auf Skalen und Strophenlieder einzulassen, für die spezielle Spielarten gefunden werden mussten. Was nämlich beim Lieblingstürken um die Ecke basslastig aus dem Lautsprecher dröhnt, ist maximal noch ein skelettartiger Rest der reichen musikalischen Kultur Anatoliens. Das wird allein schon angesichts der Instrumente klar, die sich in Hellerau auf der Bühne einfanden: Saz, Ud, Kavel und Kemence, dazu die beiden hinreißenden Duduk/Zurma-Spieler, die schon zur Terterjan-Sinfonie begeistert hatten.

Der italienische Dirigent Andrea Molino hatte wesentlichen Beitrag zur Zusammenstellung des Werkes geleistet und koordinierte Bild und Ton in der Aufführung sicher zusammen. Das Videozuspiel (Filip Zorzor, Lonni Wong) wirkte manchmal zu verspielt, dadurch wurde die intensive Wirkung des Authentischen leicht verwischt. Das tat aber der hervorragenden Aufführung keinen Abbruch; dankbar nahm das Hellerauer Publikum diesen kulturellen Brückenschlag entgegen und feierte anschließend ausgelassen mit den Sinfonikern und den Gastmusikern, die sich für eine Zugabe nicht lange bitten ließen.

Alexander Keuk