Frankfurter Allgemeine Zeitung
Auf nach Anatolien! Zukunftsmusiken in Stuttgart und Hellerau
22. Oktober 2010
Die Neue Musik ist, schon seit längerem, des Elfenbeinturms überdrüssig. Vermittlung heißt das Zauberwort, mit dem vor allem das junge Publikum angelockt werden soll. Das Rezept scheint zu wirken. In Donaueschingen sind seit Jahren schon die experimentellen Konzerte überlaufen, in Witten ebenso und auch bei Stuttgarts Éclat Festival im Frühjahr. In Stuttgart nennt sich ein neues Festival einfach „Zukunftsmusik“. Innovativ will man sein, nicht nur die Hauptstadt mit neuen Werken, Aktionen, Ideen erobern, sondern die ganze „KulturRegion“. Das Publikum ist zum Mitspielen aufgefordert, und in Ludwigsburg, Ditzingen, Leonberg, Backnang, Waiblingen, Ostfildern, Rechberghausen und noch anderen Orten nimmt es an der Darbietungen, die sich Komponisten, Musiker, Künstler aller Disziplinen ausgedacht haben, lebhaft interessiert und von Fall zu Fall auch aktiv teil.
Für das Abschlusskonzert des „Zukunftfestivals“ begab man sich doch wieder ins feste Quartier, ins Theaterhaus auf dem Pragsattel. Drei Produktionen standen auf dem Programm: eine Musik- und Videoperformance von Daniel Kötter und Hannes Seidl zum Thema „Kunstarbeit“ und „Freizeitgestaltung“. Wie steht es um die Balance zwischen Arbeit, Freizeit und Kunst, so die Frage. Für die Abbildung standen fünf Sänger der Neuen Vocalsolisten. Die Kamera begleitet sie bei alltäglichen Verrichtungen und diversen Freizeitaktivitäten. Auf der Live-Bühne treten dann die Akteure leibhaftig mit ihren „Abbildern“ in Kontakt, woraus sich oft witzige Brechungen und Situationen ergeben. Komödiantische Heiterkeit und unverkrampfte gesellschaftskritische Implikationen stehen mit schöner Selbstverständlichkeit nebeneinander. Und die von den Vocalsolisten live gesungene Musik, mit einigen eingearbeiteten Rameau-Arien, wirkt wie eine zusätzliche Brechung des „Themas“, als ein belebendes Spannungsmoment.
Während die Performancekünstlerin Jennifer Walshe mit ihrer „Zukunftsfiktion von Stuttgart 2091“ sicher von aktuellen Vorgängen in der Stadt animiert worden sein dürfte, begibt sich der Komponist und Chordirigent Rupert Huber mit seiner Chorkomposition „Al Ganyy“ in tiefere Sinnsuche für seine Musik. Zugrunde liegt die 112. Sure des Korans, in der es um Gott und Reinheit geht. Huber reflektiert die Thematik musikalisch, erzeugt mittels eines „Klang“ grundierenden größeren Chors, dessen Mitglieder zugleich Klangschalen anschlagen, und der darüber gelegten Stimmen des SWR Vokalensembles eine hochgespannte doppelter Klangschicht, in der auch außereuropäische Elemente verarbeitet werden.
Neue Zukunftsaussichten will auch das Festival in Hellerau bei Dresden bieten. Die früheren „Tage der zeitgenössischen Musik“, in strenger Observanz von Udo Zimmermann konzipiert, öffnen sich unter neuer Leitung vielen Erscheinungen der gegenwärtigen Musik. Zu den „Tonlagen“, wie sich das Hellerau-Festival jetzt nennt, gehörte diesmal auch der Ausflug in die östliche Türkei. „Hasretim – eine anatolische Reise“ hieß ein Abend mit Musikern der Dresdner Sinfoniker sowie türkischen und armenischen Gästen. Video-Aufnahmen von karstigen Bergen, fernen Inseln und leise kräuselndem Meer dienten als Folie für die musikalischen Beiträge. Klänge und Lieder, die von Gefühlen und Leiden, vom Lieben und Trauern der Menschen in diesen Ländern erzählen, ließen vorübergehend Wulff-Reden und Sarrazin-Debatten vergessen. Alles Harmonie im Großen Hellerauer Festspielhaus. Türken, Armenier, Deutsche, ob Künstler oder Zuhörer, waren auf Zeit mit- und ineinander integriert. Ein Konzert als schöne Vision.