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Klangvoll und sinnlich: „Himmel über Prohlis“

14. September 2020

Ein einmaliges Spektakel der Dresdner Sinfoniker vereint Einwohner und Gäste des Stadtviertels.

Vom Winde verwehte Musik, über die Dächer getragen, auf einem Parkdeck gelandet, von dort wieder aufgegriffen, emporgeschwungen zum Hochhaus gegenüber, als wäre hier eine Frage gestellt worden, um dort beantwortet zu werden, in den Lüften zum Dialog fortgesponnen, hin zu weiteren Häusern geschwungen, mitreißend in die Straßenschluchten gestürzt, um letztendlich in einem Ensemblespiel zu reifen, das die Menschen am Boden schier mit in den Himmel zu reißen versteht. In den Himmel von Prohlis.

Was die Dresdner Sinfoniker am Samstag im grauen Stadtteil veranstaltet haben, war ein einmaliges, klangvolles und sinnliches Spektakel, von dem man
noch lange reden wird. Nicht nur in Prohlis. Das Viertel wurde dadurch verzaubert und bunt, wie wohl schon lange nicht mehr. Die Menschen saßen und standen überall im Freien, versammelten sich auf ihren Balkonen sowie hinter weit geöffneten Fenstern, um dieser Chose zu lauschen. Hochhausmusik, wie es sie noch nie gegeben haben dürfte. An dieser Stelle schon gar nicht. Von vier 17-Geschossern und einem langgestreckten Plattenbau neben dem Parkdeck wurden die Lüfte musikalisch gefüllt. Kaum ein echter Konzertsaal vermag es, das Publikum derart in die Musik einzuhüllen, es zu deren Bestandteil werden zu lassen.

Wirkungsvoll setzte die „Olympische Fanfare“ von John Williams den Auftakt zu diesem Spektakel. Die wurde vor fast vier Jahrzehnten geschrieben, um massenkompatibel und mitreißend zu sein. Diesen Zweck erfüllt sie, wenig überraschend, noch heute. Die musikalische Simplizität wurde allerdings im Arrangement von Wieland Reißmann für ein Ensemble von 16 Hörnern, neun Trompeten und vier Tubas sowie einem Quartett von Dà-Gu-Trommeln eindrucksvoll übertüncht, da sich die strahlenden Klangfarben schier über den gen Himmel gerichteten Köpfen der Hörerschaft vermischten.

Ähnlich beeindruckend danach drei Kompositionen von Giovanni Gabrieli, deren frühbarocke Herkunft von Reißmann so imposant arrangiert worden ist, dass sich diese klingende Brücke von Venedig nach Dresden (Gabrieli war einst ein wichtiger Lehrer für Heinrich Schütz) zu einem schmetternd wehenden Gebinde gestaltete, das die Plattenbauarchitektur mit einigem guten Willen schon mal in alpine Höhenzüge verwandeln konnte. Wanderer, hörst du das Echo?

In chinesisch exotische Gefilde entführte dann nochmals das zentral auf dem Parkdeck postierte Trommel-Quartett und schob ein schlagkräftig wirbelndes Intermezzo von Minxiong Li (1932–2009) ein, um dann nach einer kurzen Pause auch in der Uraufführung „Himmel über …“ von Markus Lehmann-Horn mitzuwirken. Dieses Auftragswerk der Dresdner Sinfoniker war natürlich der Höhepunkt an diesem sommerlich sonnigen Spätnachmittag (man mag gar nicht fragen, was wohl bei Wind und Regen daraus geworden wäre) und sollte in derselben Besetzung wie die Williams-Fanfare erklingen. Mit dem gewaltigen Unterschied allerdings, dass der Münchner Komponist (Jg. 1977) statt Hörnern eigens für diesen Zweck 16 Alphörner einsetzen sollte. Deren durchdringender Tiefklang drang dunkel von den Hochhäusern durch die Lüfte, fing das Helle der Trompeten auf, wurde rhythmisch von den Trommeln durchsetzt und verwob sich mit dem Tuba-Tönen. In diesem gut halbstündigen Werk ergoss sich aus dem Himmel über Prohlis das veritable Raunen einer Berglandschaft, voll mit auf- und absteigenden Tonbildern voller Widerhall sowie dem Wechsel aus berührender Nähe und unfassbarer Weite.

Lehmann-Horn hat die vorhandenen Gestade in seine Klangwelt mit einbezogen, aber dennoch nicht nur der Wirkung der Schallwellen von Hochhaus zu Hochhaus vertraut, sondern ein ausdrückliches Stück für unsere Zeiten verfasst, in dem deutsche und europäische Geschichte assoziiert und hymnisch angerissen wurde. Kein heiteres Zitate-Raten, sondern ein um Verständigung bemühtes Verschmelzen. Bildlich gesprochen: Eingedenk aller historischen Abgründe und sich immer wieder auftuender Tiefen kann es doch ein Miteinander geben, das Gemeinsame aus dem Genuss des Musizierens und Zuhörens, das anstrengend sein kann, die Welt aber mit jedem gelungenen Ton ein kleines Stück schöner macht. Über Berge und Täler, über Straßenschluchten und Nachbarschaften hinweg.

Von Michael Ernst