Massaker, hört ihr MASSAKER!
Zwischen Orient und Abendland liegt Armenien, es bildet mit dem Berg Ararat, auf dem einst Noahs Arche landete, gewissermaßen den geographischen Mittelpunkt im Radius unserer archaisch-biblischen Welten, unseres Herkommens… Kaum verwundert es, dass auch die älteste Christengemeinde der Geschichte immer wieder, fast wie Jerusalem, zum Brennpunkt furchtbarer Ereignisse wurde, denn die monotheistischen Religionen tragen mit dem Ersten Gebot das Unheil von Anfang an in sich und: in die Welt.
„…ich bin die wunde Stelle zwischen Orient und Abendland.“
So lautet eine Zeile des armenischen Dichters Agapi Mkrtchian, und es bildet das Motto eines außerordentlich bemerkenswerten und verdienstvollen Konzertprojektes:
„Anlässlich des hundertsten Jahrestages des Völkermordes an den Armeniern initiieren die Dresdner Sinfoniker gemeinsam mit dem Gitarristen Marc Sinan das Konzertprojekt Aghet. Gewidmet ist es Sinans Großmutter Vahide, einer Überlebenden des Genozids, bei dem 1,5 Millionen Menschen den Tod fanden. Aghet ist für die Armenier zum Synonym für das Verbrechen geworden, für das bis heute ein gemeinsames Narrativ und ein eindeutiger Ausdruck fehlt. Die Dresdner Sinfoniker wollen mit ihrem abendfüllenden Konzertprojekt ein Zeichen der Versöhnung setzen.“ (Quelle: radialsystem.de)
AGHET stellt so, nach Hasretim und Dede Korkut, den dritten und letzten Teil einer Trilogie dar, in der sich die Dresdner Sinfoniker (mit türkischen, armenischen und serbischen Gästen) sowie dem Initiator und Gitarristen Marc Sinan der Geschichte und Kultur Zentralasiens, der Kaukasusregion und Vorstellungen von Herkunft und Identität stellten. Dieses Kulturprojekt triumphiert somit über Hitlers unerträgliche Frage von 1939 „Wer redet denn heute noch von der Vernichtung der Armenier?“ mit einem vitalen Wir! und tritt ihr mit einem vehementen Erinnerungswillen entgegen, der die Zukunft meint.
Zunächst fand die Uraufführung eines Werkes für Streicher der jungen Türkin Zeynep Gedizlioğlu statt, das sie für dieses Projekt komponiert hatte und dem sie trendgemäß aus mir unerfindlichen Gründen einen englischen Titel gab: Notes from the Silent One. Die Interpretation durch das Ensemble unter dem italienischen Dirigenten Andrea Molino war exzellent, diente der schönen Partitur in jedem Aspekt und ließ an Transparenz und Expressivität nichts zu wünschen übrig. Wie sie in ihren Anmerkungen schrieb, wollte Gedizlioğlu mit ihrem diffizilen und durchgearbeiteten Satz versuchen, aus der Perspektive der Opfer vor allem „Gefühle“ zu gestalten und die immer wieder versiegende Klage (was an die Tristan-Hommage von Rihm erinnerte). Freundlicher Applaus für die glückliche Meisterin! Wenn diese Uraufführung mühelos auch hätte der Mitte des vergangenen Jahrhunderts zugeordnet werden können, aber doch avantgardistischer als die Metamorphosen von Strauss oder die Trauermusik für Bratsche von Hindemith, so schien das folgende Werk beinahe einer noch früheren Phase entstiegen zu sein:
Das Viola-Konzert von 2006, Surgite Gloria, des sympathischen Komponisten Vache Sharafyan aus Jerewan erklang in deutscher Erstaufführung. Einen großen Reiz bot es schon allein dank seiner außergewöhnlichen Besetzung: die Viola (Matthias Worm) wird gekontert von dem armenischen Nationalinstrument, der oboenartigen Duduk (Araik Bartikian), begleitet vom Streichorchester mit Horn, Glocken und den im Endeffekt eigentlich drei Vokalparts, die zwei Sänger darbieten: Carl Thiemt (Bariton und Countertenor) sowie Friedrich Ilgner (Knabensopran). Beide makellos, souverän und höchst engagiert im Wechsel von Stimmlagen, Gesang und Sprechpassagen. Ihre Texte standen nicht in der alt-armenischen Sprache, obwohl sie geistlichen Werken des Mittelalters entstammten, die in ihr geschrieben sind, sondern in Latein. Das Herzstück des Werkes bilden natürlich die Soli und der Wechsel der Melodik von Viola zum spektakulär wirkenden Einsatz der Duduk, deren Bläserklang den des Streichinstrumentes wunderbar beantwortet, um dann vom Horn scheinbar weitergeführt zu werden und hier in der Tat eine Einheit einander völlig fremder Instrumente und Musiziertraditionen darbot, allerdings völlig amalgamisiert im Strom einer eher westlichen Orchesterromantik. So stand dieses Stück in der Tradition von typischen Dekors nahöstlicher Exotik. Mir scheint auch ein Konzept der Harmonie, das Unterschiede vereinend auflöst und (hier übertönend in westeuropäischen Ideen) wenig visionär. Die gemeinsame Geschichte unserer Philosophie eröffnete bereits mit Heraklit die Erkenntnis, dass die widerstrebenden Teile in der Ganzheit des Seins eine Einheit sind. Auch das gäbe ein musikalisches Konstruktionsmodell vor und würde mit Elementen alt-armenischer Musikkultur wie westeuropäischer Moderne ein interessantes Spiel auf einer neuen, dritten Ebene anregen.
Auf diese beiden fast nostalgisch anmutenden Werke einer spätromantisch bis gemäßigten Moderne folgte nach der Pause die Uraufführung der neuesten Kreation von Helmut Oehring: Massaker, hört ihr MASSAKER! für Gitarre, 12-stimmigen Frauenchor und Streichorchester, dessen Titel bereits unmissverständlich zum Ausdruck brachte, um was es hier in Wahrheit geht. Was sich dann ereignete, war ein grandioses Fanal, mit allen Mitteln geschleudert aus der Region der Kunst gegen die Unerträglichkeit und Nicht-Hinnehmbarkeit einer nicht enden wollenden Realität voller Kriege und Inhumanität. Dieses Stück ist ein Musik gewordenes Credo der Intoleranz gegenüber dem Unrecht! Schon die ersten Momente rissen alle Aufmerksamkeit an sich: Von der ersten Sekunde an bannte dieses Werk mit seiner nie nachlassenden Intensität, Phantasie und Schärfe!
„Die Partitur soll ein Kraftfeld darstellen, in dem erlittene Verletzungen und Vernichtung umgewandelt werden in eine neue Energie, eine Art seelisches Proviant für die Kommenden.“
So [s.o.] beschreibt der Brandenburger Helmut Oehring seinen Ansatz. Und genau das ist ihm auf überwältigende Weise gelungen! (Als Kind taubstummer Eltern, der die Sprache der Hörenden als fremd und feindlich erlebte, hat Helmut Oehring am eigenen Leib erfahren, wie schmerzhaft das Scheitern jeglicher Verständigung sein kann.) Seine Komposition hat er dem „Gesindel“ (çapulcular) vom Gezi Park gewidmet, eine unmissverständliche Adresse „(an: Racep Tayyip Erdogan)“. Stefanie Wördemann montierte verschiedene Texte mit einem Gedicht des Armeniers Rupen Sevag, Versen der Ya-Sin-(Trauer-)Sure und einem Poem von Oehring. Marc Sinan trägt Erinnerungen an seine Großmutter Vahide vor, Originalzitate werden eingespielt (Erdoğan: „So etwas wie ein Genozid liegt unserer Gesellschaft fern. Wir werden einen solchen Vorwurf niemals akzeptieren!“). Gleich zu Anfang deklamiert der Frauenchor in rasender Schnelle einen Auszug aus dem aktuellen Entwurf zum Entschließungsantrag des Deutschen Bundestages zum 100. Jahrestag des Völkermords, was dem Ganzen eine absurde Ätzung gibt und schier die bürokratische Maske abreißt, das ist einfach große politische Kunst:
„Das ist erst der Anfang. Der Widerstand geht weiter.“ (Çapulcular, Gezi Park Istanbul, 31.Mai 2013)
Die kontrastierende Verwebung der diversen Ebenen und heterogener Ausdrucksformen: vom Instrumentalspiel zu schreiendem Deklamieren der Musiker mit dem Dirigenten (!), Geräuschproduktion des Frauenchores, choreografierten Gebärden, Toneinspielungen, Elektronik, Trampeln abwechselnder Gruppen des Orchesters und des Chores, tief berührende Sprechpassagen Marc Sinans – zu einem nicht nur emotional, sondern politisch klaren Komplex, ganz auf der Höhe der Zeit, das zwang zu innerer Mitarbeit, der kein Ausweg ins Geschmäcklerische gelassen wird! Der Ablauf ist dramatisch und immer klar, gerade auch in seinen Schichtungen. – Den von Olaf Katzer einstudierten 12 Sängerinnen des Dresdner Kammerchores und AuditivVokal gebührt aller Respekt für ihren überzeugenden Einsatz, wie auch allen Musikern unter der glänzenden und nicht minder faszinierenden Leitung des Dirigenten Andrea Molino! In einigen Abschnitten der mit-, gegen- und übereinander kontrapunktierenden Gruppierungen, Elemente und Vorgänge, musste ich plötzlich an die H-moll-Messe von Bach denken und hatte den Eindruck, etwas entsprechend Übergreifendem beizuwohnen. Atemberaubend, mit welcher Konsequenz und Knappheit in allen Teilen Oehring und sein Mitarbeiter Torsten Ottersberg die Abläufe organisierten! Eine Wut, eine Unerbittlichkeit und Fülle, die Oehring da entfesselt, ohne Zärtlichkeit und Klage auszusparen, um, ganz auf der Höhe unserer Tage, die alles andere als Gutes verheißen, in der Tat neue Kraftfelder zu öffnen – und diese werden wir auch noch bitter brauchen!
Dieser Blick in die Geschichte des armenischen Volkes sollte, wie die Dresdner Symphoniker es sagen, nicht nur türkische, armenische, serbische und andere europäische Musiker zusammenbringen, sondern auch Vorbildwirkung haben bei weiteren Aufführungen des AGHET-Programms in Dresden, Belgrad und Istanbul im kommenden Jahr. Musikalischer Kooperationspartner wird hierbei das sein, dass Künstler aus allen Staaten des ehemaligen Jugoslawiens ungeachtet ihrer Herkunft vereint und bereits ein Netzwerk in allen Ländern dieser Region etabliert hat über alle Grenzen, politischen und ethnischen Grenzen hinweg… Hoffen und wünschen wir, dass ganz besonders die Aufführung in Istanbul zustande kommt und ungestört ablaufen kann, ohne dass es zu Übergriffen auf die Künstler kommt. Vor allem aber wünschen wir der Intention Erfolg!