Kategorie: Medienecho

Long Distance Call: SZ

Sächsische Zeitung

Ein Konzert mit 500 Kilometern zwischen Keyboard und Gitarre

3. November 2023

Die Dresdner Sinfoniker spielen gleichzeitig in Radebeul und in Bochum. Fürs Publikum wird alles zu einem Klangerlebnis.

Seit ihrer Gründung 1997 sind die Dresdner Sinfoniker immer wieder für Überraschungen gut. Sie spielten 2003 einen Liederzyklus mit klassisch adaptierten Rammstein-Songs ein, traten 2004 auf dem Wohnblock an der Prager Straße zusammen mit den Pet Shop Boys auf, musizierten mit Alphörnern auf den Hochhausdächern von Prohlis und zuletzt gemeinsam mit historischen Dampfern von einem Schubschiff aus auf der Elbe. Jetzt folgt ein Konzert, bei dem gut 500 Kilometer zwischen den einzelnen Musikern liegen.

Am Freitag und am Sonnabend spielen in der Radebeuler Sternwarte der Keyboarder Andreas Gundlach und der Cellist Torsten Harder, im Planetarium von Bochum wiederum klinken sich die Gitarristen Steffi Narr und Lars Kutschke ein. Während dieses knapp zweistündigen Live-Musik-Experiments mit dem Titel „Long Distance Call“, zu Deutsch „Ferngespräch“, führt Gundlach, der schon länger im Kosmos der Dresdner Sinfoniker unterwegs ist, alle Beteiligten beim gemeinsamen Improvisieren zusammen. „Davor gibt an beiden Orten jeweils ein jazziges Duo-Programm“, kündigt Markus Rindt, Intendant der Dresdner Sinfoniker an.

Die Spielstätten weisen bereits auf das nächste Projekt der Sinfoniker hin. Rindt: „Wir arbeiten gerade mit dem Planetarium Bochum an einem interkontinentalen Musikprojekt, bei dem wir im Jahr 2025 verschiedene Ensembles weltweit live vernetzen wollen.“ Die Idee, jetzt erst einmal Radebeul und Bochum zu verbinden, sei dabei aufgekommen. „Sozusagen als kleiner Test vorab“, so Rindt. „Planetarien eignen sich sehr gut für solche Projekte, da man Videos – zum Beispiel von entfernten Ensembles – sehr flexibel an die Kuppel projizieren kann.“ Zudem sollen sich die Musikerinnen und Musiker von der Atmosphäre im Planetarium inspirieren lassen. „Wie sich das bei der Improvisation entwickelt, bleibt natürlich für alle eine Überraschung.“ Dass alles sehr schräg klingen könnte, bezweifelt Markus Rindt. „Da alle aus dem Jazz- oder Popbereich kommen, wird die Musik schon sehr zugänglich sein.“

Doch was macht eigentlich den Reiz am Musizieren über große Entfernungen aus? Rindt skizziert zunächst das Problem dabei: „Nach wie vor ist das Musizieren via Internet mit erheblichen technischen Herausforderungen verbunden. Beim Videogespräch fällt die Verzögerung, auch Latenz genannt, nicht auf. Man spricht halt abwechselnd.“ Beim Musizieren komme es aber auf das gleichzeitige Spiel an. Bereits bei einer Latenz von 30 Millisekunden hätten Musiker das Gefühl, dass die jeweils andere Seite konstant langsamer wird. „Da man auf die anderen wartet, kommt die Musik irgendwann zum Stillstand.“
Bereits seit 15 Jahren würden die Dresdner Sinfoniker mit Experten wie Alexander Carôt oder Gerhard Fettweis an der Reduktion der Signallaufzeiten arbeiten. „Viele der technischen Hürden konnten wir durch die Optimierung der Soft- und Hardware inzwischen nehmen. Falls es uns gelingt, die derzeit noch sehr komplexe Technik zu vereinfachen, werden in Zukunft Musiker europaweit über das Netz zusammenspielen können. Es könnte sich so anfühlen, als wären sie im selben Raum, nur wenige Meter voneinander entfernt.“ Das ergäbe vollkommen neue Möglichkeiten der künstlerischen Zusammenarbeit. Auch könnten Menschen miteinander musizieren, die aufgrund ihres Alters oder aufgrund von Krankheiten nicht mehr mobil seien. Rindt mutmaßt: „Das Musizieren übers Internet könnte in Zukunft so einfach werden wie heutige Videogespräche. Natürlich kann und darf man fragen, ob das leibhaftige Zusammenspiel im selben Raum nicht viel natürlicher ist. Die Antwort darauf ist für mich ein klares Ja.“

Ohnehin gebe es unüberwindliche Grenzen. „Da sich auch digitale Signale nicht schneller als mit Lichtgeschwindigkeit bewegen können, werden interkontinentale Verbindungen, zum Beispiel zwischen Europa und Australien, musikalisch immer ein großes Problem darstellen. Leider können wir Einstein nicht überlisten.“ Doch eine Neuauflage des jetzt anstehenden musikalischen Ferngesprächs hat er bereits im Blick. „Für das Jahr 2026 entwickeln wir gerade ein Projekt mit elf europäischen Ländern, bei dem wir die großen Klangkörper live miteinander verbinden und temporär ein gemeinsames virtuelles Orchester erschaffen wollen. Insofern ist unser ,Long Distance Call‘ zwischen Radebeul und Bochum nur ein kleiner Anfang.“


Himmel über Prohlis: Der Sonntag

Der Sonntag

Spektakuläres Hochhaus-Konzert im Dresdner Plattenbaugebiet

17. September 2020

Wieder einmal haben die experimentierfreudigen Dresdner Sinfoniker für Aufsehen gesorgt: Für ein Konzert sind sie auf mehrere Hochhausdächer in Dresden-Prohlis gestiegen. Bläserinnen und Bläser füllten das Areal mit ungewöhnlichen Klängen.

Schwindelfreie Musikerinnen und Musiker brauchte es am Samstagabend: Wie auf einer Perlenschnur aufgereiht stehen sie auf dem Dach der Plattenbau-Hochhäuser, manche von ihnen in fast 50 Metern Höhe. Über ihnen nur der Himmel und manchmal eine Drohne, die surrend das Spektakel einfängt. Unter ihnen haben sich Anwohner auf Balkonen mit Markisen und Blumen eingefunden. Auch viele Fenster gehen auf. Aus einem weht ein „Danke“-Banner.

Die Dresdner Sinfoniker haben am Samstag mitten im Plattenbauviertel Dresden-Prohlis gespielt. Das experimentierfreudige Orchester unter Leitung seines Intendanten Markus Rindt hatte sich auf vier 17-Geschosser, weitere hohe Wohnhäuser und ein Parkdeck verteilt. Ihr spektakulärer Auftritt unter dem Motto „Himmel über Prohlis“ wurde begeistert aufgenommen. Das Publikum, das unter anderem auf dem zentralen Parkdeck Platz genommen hatte, winkte dankend zu den Dächern hinauf.

Das Open-Air-Konzert sei schon vor etwa einem Jahr geplant worden, sagte Rindt. Jetzt, mitten in Corona-Zeiten, habe es den Musikerinnen und Musikern ermöglicht, überhaupt wieder live vor Publikum auftreten zu können. Mit dem Projekt wollte das Orchester die sogenannte Neue Musik für ein breiteres Publikum öffnen. Bereits am Vormittag hatten kleinere Gruppen in den begrünten Innenhöfen der Plattenbauten gespielt.

Für das Abendspektakel war eine äußerst sorgfältige Vorbereitung nötig. Die Musiker waren nicht nur mit Kopfhörern ausgestattet, sondern auch mit Gurten, an denen sie auf den Hochhausdächern gesichert wurden. Zwölf professionelle Industriekletterinnen und -kletterer hatte das Orchester dafür engagiert. Sie versorgten auch die Kamerateams mit Sicherheitstechnik.

„Das war ein riesiges Experiment, über so große Entfernungen zusammenzuspielen“, sagte Rindt, sichtlich erleichtert nach dem ersten Stück. Möglich sei das nur Dank ausgeklügelter Technik gewesen. Diese habe ermöglicht, die Einsätze der Instrumentalisten aufeinander abzustimmen, ganz ohne Dirigenten. Die natürliche Schallverzögerung konnte so umgangen werden.

Das Programm erwies sich als ebenso ungewöhnlich wie das Ambiente. Auf die Fanfare, die John Williams für die Olympischen Spiele 1984 komponiert hatte, folgten Renaissancestücke in einer modernen Bearbeitung von Wieland Reißman für die Hochhaus-Bläserbesetzung sowie ein Stück für vier riesige chinesische Trommeln.

Höhepunkt war die Uraufführung eines Werkes für 16 Alphörner, neun Trompeten, vier Tuben, Trommeln und Schlagwerk. Der Münchner Komponist Markus Lehmann-Horn hatte es speziell für die Ausmaße der Dresdner Hochhaussiedlung geschrieben. 30 Minuten lang füllte es nun das Prohliser Areal. Die Alphörner – meterlange Rohre, verbreitet in der Schweiz, Österreich und Bayern – erklangen auf vier Hochhäusern. Die anderen Musikerinnen und Musiker waren auf weiteren Dächern und dem Parkdeck verteilt. Das in der DDR errichtete und später modernisierte Plattenbaugebiet Prohlis gilt als sozialer Brennpunkt. Unzählige Häuserzeilen aus Beton prägen das Bild. „Wir haben das Publikum dort abgeholt, wo es zuhause ist“, sagte Rindt: „Bei einem Spaziergang durch ihr Viertel oder auf den Balkonen ihrer Wohnungen.“

Der Gedanke, in Prohlis zu spielen, sei schon 14 Jahre alt. Damals wollten die Sinfoniker mit den Pet Shop Boys in der Plattenbausiedlung auftreten. Doch die „Hochhaussinfonie“ fand 2006 dann auf der Prager Straße im Stadtzentrum statt. Damals musizierten sie von den Balkonen der Hochhäuser, dieses Mal stiegen sie auf die Dächer. Über solche weiten räumlichen Entfernungen zu spielen, das habe wohl noch niemand gemacht, sagte Lehmann-Horn. Er habe den Klang seines Werkes dafür schwebend, zum Teil auch sirenenartig angelegt. Mit einem Zitat aus Ludwig van Beethovens neunter Sinfonie schließe das Stück versöhnlich.

Der Aufführungsort sei auch in Corona-Zeiten ideal, mitten im Viertel, kein Straßenlärm, genug Platz, sagte Rindt. Er dankte den Prohlisern für die Unterstützung. „Es ist großartig, wie Sie uns hier gewähren lassen“, sagte er: „Man sollte hier in Zukunft noch mehr Konzerte machen.“ Das Wohnungsunternehmen Vonovia stellte in Prohlis die nötigen Hochhausflächen zur Verfügung. Außerdem hilft Vonovia mit einer Geldspende von 15.000 Euro. „Himmel über Prohlis ist ein einzigartiges Musikerlebnis und ein kulturelles Highlight. So lässt sich das Quartier noch einmal von einer ganz anderen Seite erleben“, sagt Martina Pansa von Vonovia.

Von Katharina Rögner


Himmel über Prohlis: Süddeutsche Zeitung

Süddeutsche Zeitung

Sinfoniker verwandeln Plattenbausiedlung in Konzertsaal

12. September 2020

Dresden (dpa/sn) – Die Dresdner Sinfoniker haben den zentralen Platz im Plattenbauviertel Prohlis im Osten Dresdens in einen Openair-Konzertsaal verwandelt. Mehrere hundert Menschen haben am Samstagabend das musikalische Geschehen von den Fenstern, den Grünflächen des Wohngebietes und den Parkplätzen vor einem Einkaufszentrum aus verfolgt. Sechzehn Alphörner, neun Trompeten, vier Tubas und vier Dà Gǔ-Trommeln erfüllten teilweise von den Dächern der Hochhäuser aus den Raum über dem Platz mit Klang. Die Alphornisten spielten in etwa 50 Metern Höhe von vier 17-Geschossern aus fast wie von Berg zu Berg. Einige der Musiker auf den Hochhausdächern waren mit Gurten gesichert.

Die Menschen am Boden quittierten das Konzert mit Beifall. Einige reckten Aufnahmegeräte in die Höhe oder versuchten das Geschehen mit der Kamera ihres Smartphones im Bild festzuhalten.

Eigens für das Projekt hatte der Komponist Markus Lehmann-Horn das Werk „Himmel über Prohlis“ geschrieben. Den Anfang machte allerdings die Eröffnungsfanfare der Olympischen Sommerspiele 1984 in Los Angeles. Räumlich verteilt spielten die Blechbläser die Echochöre des Venezianers Giovanni Gabrieli (1557-1612), die er vor mehr als 400 Jahren für den Markusdom komponiert hatte. Klänge von „Freude schöner Götterfunken“ aus Beethovens 9. Sinfonie beendeten den Abend. Das 1998 gegründete Orchester setzt sich aus Künstlern der Freien Szene und Musikern namhafter Orchester aus dem In- und Ausland zusammen.


Himmel über Prohlis: Freie Presse

Freie Presse

Alphörner im Hochhaus-Gebirge

14. September 2020

Die Dresdner Sinfoniker verwandeln mit ihrem Projekt „Himmel über Prohlis“ das Plattenbauviertel für einen Tag in eine hippe Konzerthalle.

Es ist mindestens olympiaverdächtig, was da am Samstagabend im Dresdner Plattenbauviertel Prohlis passiert: Prohlis, sonst eher in den Schlagzeilen als Ort der Abgehängten, ist Bühne für ein ungewöhnliches Konzertprojekt der Dresdner Sinfoniker. Und Prohlis macht sich ganz großartig als diese Bühne, verwandelt sich in die beste dafür vorstellbare Kulisse.

Die „Olympischen Fanfare“, die der amerikanische Komponist John Williams für die Eröffnung der Sommerspiele 1984 in Los Angeles geschrieben hatte, hallt gewaltig über Prohlis; denn die Hörner, Trompeten und Tubas schmettern von Hochhausdächern herab, die, als habe es der Architekt beim Entwerfen geahnt, wofür sie im Jahr 2020 dienen sollen, im Halbkreis um das Prohliser Einkaufszentrum angeordnet sind. Die eigentliche Bühne, umgeben von allerlei Technik, Richtfunkstrecken, ist auf dem Parkdeck des Einkaufszentrums aufgebaut. Die Fanfaren sind der bombastische Auftakt eines großartigen Konzerts. Geplant weit vor der Corona-Pandemie, erweist sich auch aus diesem Gesichtspunkt das Konzert als das Format der Stunde. Denn nicht nur stehen die Bläser, die als die aus Ansteckungsgesichtspunkten schwierigste Instrumentengruppe gelten, weit, sehr weit voneinander entfernt auf verschiedenen Hochhausdächern – auch das Publikum sitzt in bequem großen Abstand auf dem riesigen Parkdeck, verteilt sich darüber hinaus auf Balkons, auf Straßen, Vorplätze und Grünanlagen. Es sind viele, sehr viele, die diesem Ereignis beiwohnen. Schon seit dem Vormittag, als die Sinfoniker einige Konzerte in den Innenhöfen des Stadtviertels geben, sind die Prohliser auf den Beinen, 15 Uhr kommen Artisten des Zirkus „FahrAwaY“ vorbei als Teil der Theaterspielzeiteröffnung; diese ganz besondere Stimmung aus Aufregung, ungläubigem Staunen, dass so viele Menschen, Fernsehteams, Übertragungswagen hierher kommen, ist überall zu spüren. Handyfotos werden in alle Richtungen geschossen, die Überraschung ob der Menschenmassen geteilt. Mit der „Olympischen Fanfare“ entlädt sich auch die Spannung in eine einzige Begeisterung und Freude daran, bei diesem Ereignis dabei zu sein. Und es hat funktioniert. Dem Intendanten der Dresdner Sinfoniker Markus Rindt ist die Erleichterung anzumerken. Denn man konnte, außer einem Soundcheck, nicht wirklich vorher proben und am Klang arbeiten. Die über Hunderte Meter voneinander entfernt stehenden Musiker hätten sich nicht dirigieren lassen – zu unterschiedlich lang würde der Schall brauchen, um die Ohren zu erreichen und dort eher eine Kakofonie als einen Wohlklang auslösen.

Markus Rindt sprühte auch vor riesengroßer Freude darüber, dass seine Idee, die er seit fast 15 Jahren mit sich herumtrug, endlich Wirklichkeit geworden ist. Denn eigentlich wollte er schon mit der „Hochhaussinfonie“ 2006 nach Prohlis kommen, das ließ sich damals aber nicht realisieren und er wich mit seinen Sinfonikern, dem Pop-Duo Pet Shop Boys und dem Film „Panzerkreuzer Potemkin“ auf die Prager Straße als beeindruckende Filmkonzertkulisse aus. Doch der Traum, Alphörner über Hochhausschluchten klingen zu lassen, ließ ihn nicht los. Im Intendanten des Societaetstheaters Andreas Nattermann und dem Wohnungsunternehmen Vonovia fand er schließlich Partner fürs Organisatorische, in Markus Lehmann-Horn den geeigneten Komponisten für das Projekt. Es galt, zahlreiche Geldgeber zu überzeugen, Industriekletterer zu finden, die die Musiker auf den Dächern absichern, Kamerateams zu koordinieren, um das Ereignis zu dokumentieren – man möchte in den letzten Monaten nicht in Markus Rindts Haut gesteckt haben. Aber es ist ihm und seinen Sinfonikern wieder einmal gelungen, aus zeitgenössischer Kunst ein Ereignis werden zu lassen, das noch lange nachhallen wird. Nicht nur in den Häuserschluchten von Prohlis, sondern auch im Gedächtnis seiner Bewohner.

Wer glaubt, das Ganze habe nur Eventcharakter, irrt. Spätestens mit den Kompositionen des Venezianers Giovanni Gabrieli, die dieser vor etwa 450 Jahren für den Markusdom geschaffen hatte und mit der instrumentalen Mehrchörigkeit gleichsam das Dolby-Surround-System heutiger Tage vorwegnahm, überzeugen die Sinfoniker auch künstlerisch. Für die dafür notwendige Präzision, für das Wagnis zu spielen, ohne die anderen zu hören, den Einsatz nur über ein Klickgeräusch zu bekommen, genügt es nicht, „nur“ ein sehr guter Musiker zu sein. Es braucht Erfahrung mit der Technik und Vertrauen zur musikalischen Leitung (Einstudierung: Premil Petrovic).

Als Höhepunkt und Abschluss folgt – nachdem auch das Dà-Gû- Quartett, das riesige chinesische Trommeln bespielt, einen beeindruckenden Soloauftritt hatte – die Uraufführung von Lehmann-Horns Komposition „Himmel über …“, für Alphörner, Trompeten, Tubas und Dà-Gû-Quartett. 35 Minuten lang schälen sich aus zunächst drohend dunklen Tönen Anklänge an Tanz- und Marschmusik heraus, setzen sich Variationen aus Beethovens „Freude, schöner Götterfunken“ durch. Wer wollte, konnte in diesen 35 Minuten viele Anspielungen an deutsche Geschichte und den sie begleitenden Soundtrack erkennen. Oder aber den Augenblick genießen, schwelgen im Klang wohlgesetzter Hörner und Trommeln, vermischt mit Lachen, Rufen, Satzfetzen – den Geräuschen eines Wohnviertels. Nach dem letzten Ton setzt langer Beifall ein, auf dem Parkdeck, von den Balkons, aus einem Fenster wird ein „Danke“-Bettlaken entrollt, die Musiker auf den 17-Geschossern schwenken ihre Alphörner – der Himmel über Prohlis, auch er hat sein Bestes gegeben, um dieses Ereignis unvergesslich sein zu lassen.

Von Katja Solbrig


Himmel über Prohlis: DNN

Dresdner Neueste Nachrichten

Klangvoll und sinnlich: „Himmel über Prohlis“

14. September 2020

Ein einmaliges Spektakel der Dresdner Sinfoniker vereint Einwohner und Gäste des Stadtviertels.

Vom Winde verwehte Musik, über die Dächer getragen, auf einem Parkdeck gelandet, von dort wieder aufgegriffen, emporgeschwungen zum Hochhaus gegenüber, als wäre hier eine Frage gestellt worden, um dort beantwortet zu werden, in den Lüften zum Dialog fortgesponnen, hin zu weiteren Häusern geschwungen, mitreißend in die Straßenschluchten gestürzt, um letztendlich in einem Ensemblespiel zu reifen, das die Menschen am Boden schier mit in den Himmel zu reißen versteht. In den Himmel von Prohlis.

Was die Dresdner Sinfoniker am Samstag im grauen Stadtteil veranstaltet haben, war ein einmaliges, klangvolles und sinnliches Spektakel, von dem man
noch lange reden wird. Nicht nur in Prohlis. Das Viertel wurde dadurch verzaubert und bunt, wie wohl schon lange nicht mehr. Die Menschen saßen und standen überall im Freien, versammelten sich auf ihren Balkonen sowie hinter weit geöffneten Fenstern, um dieser Chose zu lauschen. Hochhausmusik, wie es sie noch nie gegeben haben dürfte. An dieser Stelle schon gar nicht. Von vier 17-Geschossern und einem langgestreckten Plattenbau neben dem Parkdeck wurden die Lüfte musikalisch gefüllt. Kaum ein echter Konzertsaal vermag es, das Publikum derart in die Musik einzuhüllen, es zu deren Bestandteil werden zu lassen.

Wirkungsvoll setzte die „Olympische Fanfare“ von John Williams den Auftakt zu diesem Spektakel. Die wurde vor fast vier Jahrzehnten geschrieben, um massenkompatibel und mitreißend zu sein. Diesen Zweck erfüllt sie, wenig überraschend, noch heute. Die musikalische Simplizität wurde allerdings im Arrangement von Wieland Reißmann für ein Ensemble von 16 Hörnern, neun Trompeten und vier Tubas sowie einem Quartett von Dà-Gu-Trommeln eindrucksvoll übertüncht, da sich die strahlenden Klangfarben schier über den gen Himmel gerichteten Köpfen der Hörerschaft vermischten.

Ähnlich beeindruckend danach drei Kompositionen von Giovanni Gabrieli, deren frühbarocke Herkunft von Reißmann so imposant arrangiert worden ist, dass sich diese klingende Brücke von Venedig nach Dresden (Gabrieli war einst ein wichtiger Lehrer für Heinrich Schütz) zu einem schmetternd wehenden Gebinde gestaltete, das die Plattenbauarchitektur mit einigem guten Willen schon mal in alpine Höhenzüge verwandeln konnte. Wanderer, hörst du das Echo?

In chinesisch exotische Gefilde entführte dann nochmals das zentral auf dem Parkdeck postierte Trommel-Quartett und schob ein schlagkräftig wirbelndes Intermezzo von Minxiong Li (1932–2009) ein, um dann nach einer kurzen Pause auch in der Uraufführung „Himmel über …“ von Markus Lehmann-Horn mitzuwirken. Dieses Auftragswerk der Dresdner Sinfoniker war natürlich der Höhepunkt an diesem sommerlich sonnigen Spätnachmittag (man mag gar nicht fragen, was wohl bei Wind und Regen daraus geworden wäre) und sollte in derselben Besetzung wie die Williams-Fanfare erklingen. Mit dem gewaltigen Unterschied allerdings, dass der Münchner Komponist (Jg. 1977) statt Hörnern eigens für diesen Zweck 16 Alphörner einsetzen sollte. Deren durchdringender Tiefklang drang dunkel von den Hochhäusern durch die Lüfte, fing das Helle der Trompeten auf, wurde rhythmisch von den Trommeln durchsetzt und verwob sich mit dem Tuba-Tönen. In diesem gut halbstündigen Werk ergoss sich aus dem Himmel über Prohlis das veritable Raunen einer Berglandschaft, voll mit auf- und absteigenden Tonbildern voller Widerhall sowie dem Wechsel aus berührender Nähe und unfassbarer Weite.

Lehmann-Horn hat die vorhandenen Gestade in seine Klangwelt mit einbezogen, aber dennoch nicht nur der Wirkung der Schallwellen von Hochhaus zu Hochhaus vertraut, sondern ein ausdrückliches Stück für unsere Zeiten verfasst, in dem deutsche und europäische Geschichte assoziiert und hymnisch angerissen wurde. Kein heiteres Zitate-Raten, sondern ein um Verständigung bemühtes Verschmelzen. Bildlich gesprochen: Eingedenk aller historischen Abgründe und sich immer wieder auftuender Tiefen kann es doch ein Miteinander geben, das Gemeinsame aus dem Genuss des Musizierens und Zuhörens, das anstrengend sein kann, die Welt aber mit jedem gelungenen Ton ein kleines Stück schöner macht. Über Berge und Täler, über Straßenschluchten und Nachbarschaften hinweg.

Von Michael Ernst


Mein Herz brennt: WaS

Welt am Sonntag

Ein klassischer Mutterkomplex

26. Oktober 2003

Begegnung der dritten Art: Star-Bass René Pape und Katharina Thalbach interpretieren Lieder nach Rammstein-Texten

Wenn Richard Wagners traurigster Held, König Marke, Rock hört, kommt er ins Staunen: „Ich lag da in meinem Sessel, habe Lied um Lied gelauscht und gedacht: Was ist denn das? Auf dem Album der Band Rammstein klangen alle Songs irgendwie gleich. Alle in einer Tonart. Alle durchaus effektvoll. Aber auch alle sehr vorhersehbar.“

Wenn König Markus Rock hört, kommt er auf merkwürdige Gedanken. Dann stellt er sich vor, wie „so ein Rock-Komponist“ wohl komponiert. „Ich glaube, die haben dann nicht nur die Musik im Sinn und den Text, sondern sehen schon die gesamte Bühnenshow vor sich: Lichteffekte, Pyrotechnik und Tanz-Tamtam.“ Die Einheit von Klang, Text und Bühne. Ist das nicht, was Richard Wagner „Gesamtkunstwerk“ nannte? Jener Wagner, der König Marke erfunden hat? Jener König Marke, der nun Rammstein-Lieder singt; der Star-Bass René Pape.

Wenn er den letzten großen Rammstein-Hit «Mutter» intoniert, klingt das immer auch ein bisschen, als würde er eine romantische Oper singen: weich und düster, mit Herzton der Überzeugung und Butter-Gestaltung.

Der Komponist Torsten Rasch umhüllt ihn dabei mit zitternden Streichern, verschlungenen Bässen, schluchzenden Geigen, düsteren Trommeln, chromatischen Endlosigkeiten und Mahlerischen Dur-Moll-Explosionen. Gespielt von den Dresdner Sinfonikern unter dem tontrunkenen John Carewe.

Plötzlich haben wir es mit einem psychoanalytisch verwobenen Mutterkomplex zu tun.

«Mein Herz brennt» heißt die CD. Ein weiterer Versuch aus dem Hause Universal, das Cross-over neu zu erfinden. Pop auf Klassik zu trimmen, ist eigentlich alt: Vorreiter war das London Symphony Orchestra, und gerade hat der britische Komponist Tolga Kashif für EMI die größten Motive von «Queen» in Bruckner-Klänge getaucht. In Torsten Raschs Rammstein-Vertonungen ist also eigentlich nichts wirklich neu. Außer vielleicht der Idee, einige Texte von Katharina Thalbach sprechen zu lassen. Sie gibt ihrer Stimme die Gestalt eines giftigen Märchen-Zwerges – „Ich will Ich will Ich will“

Und trotzdem ist dieser Wurf besser als alles, was bisher im Rock-Klassik-Cross-over versucht wurde. Auch, weil Rasch ein altes Genre neu belebt, den Liederzyklus. Eine durchaus deutsche Tradition, Schubert, Schumann, Mahler, Schönberg. Rasch kennt sie alle.

Und hier wird’s heikel.

Universal-Boss Tim Renner hat kürzlich in der «Zeit» geträumt: „Deutschland ist auf dem Weg zu einer neuen Kultur.“ Bei solchen Worten liegt ihm „die ganze Zeit Rammstein im Ohr“. Für Renner „das Signal einer provokanten nationalen Kultur. Das war deutsch, das wurde auf Deutsch gesungen, und die Welt hörte zu.“

Nun mag sich der Renner-Schützling, Christian Kellersmann, Klassik-Chef von Universal und ewiger Jung-Denker, überlegt haben: Mahler-Kopie und Rammstein-Text. So könnte die Klassik vielleicht doch noch am neuen deutschen Wesen genesen. Morgen erscheint die Platte auf dem deutschen Markt, übermorgen erobert die Europa, und dann geht sie in die USA.

Und was sagt König Pape dazu? „Alles Quatsch! Ich sehe da nichts Deutschnationales“. Für ihn sind die Rammstein-Texte „zutiefst romantisch“, könnten auch von Hofmannsthal stammen: „Es geht hier wie in jeder Kunst vom Schnulzen-Schlager bis zur Oper immer wieder um das Gleiche: Liebe, Hass und brennende Herzen.“ Und es geht um die modernen Variationen der alten Themen, etwa um die Sehnsucht von Retorten-Babys, an den Nippeln einer echten Mutterbrust zu saugen.

Im Internetforum der Plattenfirma wurde bereits vor der Veröffentlichung heftig disputiert: Rammstein-Fans haben Angst vor der Klassik-Adaption, Klassik-Snobs fürchten den Untergang des Abendlandes. Aber das Album beweist; Klassik und Rock haben durchaus Schnittmengen. In diesem Fall heißt sie: Pathos. Rammstein und Rasch wollen direkt sein – Herzenssache statt Kopfgeburt. Ganz nebenbei jonglieren sie virtuos mit Mythen der deutschen Identität. Mit bekannten Textbausteinen, bewährten und politisch besetzten Harmonien, Rhythmen und Effekten.

Man muss an so etwas vorurteilsfrei herangehen. Auf jeden Fall machen Rasch und Rammstein große Musik, die nicht größenwahnsinnig ist. Eine Neoromantik, die nicht esoterisch wird. Und für Skeptiker bleibt da René Pape – er ist auch im Rammstein-Reich immer noch König Marke.

Von Axel Brüggemann


Mein Herz brennt: Zeit

Die Zeit

Im schwarzen Schatten

Kulturbrief 44/2003

Die Dresdner Sinfoniker nehmen sich der Texte von «Rammstein» an

Wenn Rockmusik auf Klassik trifft, kommt oft Übles heraus. Manchmal verhunzen Popsongs klassische Melodien, manchmal werden schnulzige Rocksongs orchestral instrumentiert – wie sie es auch drehen, selten ist an diesen Synthesen etwas Geschmackvolles, geschweige denn Kunstvolles. Obwohl Klassikpop-Allianzen dieser Ruf vorauseilt, realisierte Sven Helbig von den Dresdner Sinfonikern mit dem Komponist Thorsten Rasch nun ein Projekt, das eine Brücke von Rockmusik zu Klassik schlägt. Heraus kam ein Liederzyklus aus acht eigenartigen sinfonischen Stücken mit Gesang plus einer Ouvertüre. Es war ein langwieriger Prozess von Transformationen bis zum Zyklus namens „Mein Herz brennt“. Denn Urheber der Vorlage ist eine der umstrittensten und brachialsten Metalbands Deutschlands: Rammstein.

Rammstein ist die deutsche Band, die in Musikrezensionen gerne als ‚Teutonen-Rocker‘ oder auch ‚Pyro-Rocker‘ betitelt wird, letzteres wegen ihrer pyrotechnisch ausgefeilten Bühnenshows.  Vielleicht auch, weil sich die Band makabererweise nach der Stadt Ramstein benannte, in der sich am 28. August 1988 ein tragisches Flugzeugunglück ereignete. Drei italienische Flieger stießen während einer Flugakrobatik-Vorführung zusammen und stürzten brennend in die Zuschauermenge. Es gab 500 Verletzte und 74 Tote. Nach dem Unfall änderten sämtliche Akrobatikgruppen der Welt den Vorführungsmodus; Deutschland verbot dauerhaft Akrobatik-Shows dieser Art. Und sechs Jungs aus Schwerin und Ost-Berlin beschlossen fünf Jahre später, ihrer Industrial-Rock-Band einen gleichklingenden Namen zu geben und sich fortan auf der Bühne anzuzünden. Immerhin: Sie widmeten ihren Song „Rammstein“ den Opfern des Flugzeugunglücks. Eine missverständliche, bemüht provokante Symbolik. Ähnlich kalkuliert mehrdeutig sind auch Texte und Musik der Band, die seit einem Video mit Leni-Riefenstahl-Sequenzen in den USA als rechtsradikal verschrien ist. Die Attentäter von Littleton seien Rammstein-Fans gewesen, hieß es im April 1999. Eine Singleauskopplung der letzten CD wurde in den amerikanischen Medien boykottiert, zu sehr erinnere die Marschmusik von „Links, zwo, drei, vier“ an den deutschen Faschismus, lautete die Begründung von MTV. Die Rammstein-Mitglieder, allesamt Familienväter, weisen diese Vorwürfe entrüstet von sich. Rammstein spiele nur mit provokanten Themen, perversen Praktiken und metallischer, zorniger Vorschlaghammermusik. Auch die Songtexte rund um Blut, Schmerz, Tod, Sex, Perversion und Friedhofserde sind nichts für Zartbesaitete. Dahinter steckt viel Kalkül. Mit Anleihen an Leni Riefenstahl, mit Marschmusik und Feuershows setzen sie sich in Szene, medienwirksam untermalt von brachialem Sound.

Die Orchestermusiker in Dresden hatten noch nie Musik von Rammstein gehört, als Sven Helbig mit diesem Projekt an sie herantrat. Ebenso kannte der Produzent die Umsetzung durch Rammstein nicht, als er die Texte von Sänger Till Lindemann las. Und auch für Komponist Thorsten Rasch hat sich Rammstein zunächst über die Texte erschlossen. Alle Beteiligten sehen in den Themen eine durchgehende Linie zur romantischen Tradition. Das gewaltige Auftreten des „Phänomens Rammstein“, von dem Produzent wie Komponist sprechen, steht in ihrem Empfinden in direktem Verhältnis zur Romantik. „Manche Texte riefen geradezu nach einer Umwandlung – auch wenn jeder völlig unterschiedliche Assoziationen zu der sehr bildhaften Sprache hatte“, sagt Rasch. Helbig und Rasch sehen sich nun mit ihrem Werk in der Tradition Gustav Mahlers und seiner Kindertotenlieder , einer Vertonung der Gedichte von Friedrich Rückert. „Als künstlerisch denkender Mensch ist man immer um neue Formen bemüht, an neuen Kooperationen interessiert, an Metarmorphosen alter Stoffe und deren Umsetzung in einem komplett anderen Umfeld“, sagt Sven Helbig. Er habe völlig eigenständige, neue Werte schaffen wollen, auch und gerade für Menschen, die Rammstein vorher gar nicht kannten.

Komponist Thorsten Rasch macht es seinen Hörern nicht leicht. Er schöpft aus dem Vollen der Musikgeschichte, orientiert sich an Schubert wie Schönberg, experimentiert und provoziert, aber fürchtet sich nicht vor Konservatismen. Gewaltige Orchesterblöcke, die in ihrer Heftigkeit im Einklang mit den monumentalen Rammstein-Shows stehen, werden von feinsten dissonanten Streichersoli abgelöst. Schauspielerin Katharina Thalbach rezitiert die Rammstein-Texte dazu, wispert zärtlich Liebesgedichte oder kreischt böse Drohungen. Sie werde vor jedem Konzert zittern, befürchtet Thalbach, so sehr habe sie sich in das Projekt hineinbegeben und die assoziativen Texte und Melodien verinnerlicht. Es kann einem in der Tat Schauer über den Rücken treiben, wenn Bassbariton René Pape mit einem typisch rollenden Rammstein-‚R‘ pathetisch die düsteren Stimmungsbilder Till Lindemanns singt:

Die Tränen greiser Kinderschar
Ich zieh sie auf ein weißes Haar
Werf in die Luft die nasse Kette
Und wünsch mir, dass ich eine Mutter hätte

Keine Sonne die mir scheint
Keine Brust hat Milch geweint
In meiner Kehle steckt ein Schlauch
Hab keinen Nabel auf dem Bauch

Der Mutter die mich nie geboren
Hab ich heute Nacht geschworen
Ich werd ihr eine Krankheit schenken
Und sie danach im Fluss versenken

Obwohl sich Rasch allein auf das Instrumentarium des Sinfonieorchesters beschränkt, finden auch Melodien der Originale ihr Echo. Trotzdem ist Raschs Komposition als eigenständiges Werk zu betrachten. Das Projekt „Mein Herz brennt“ ist ohne Zutun und ohne Kontakt zur Rammstein-Band entstanden. Und die Vertonung wird Rammstein-Fans kaum begeistern können. Für Freunde der zeitgenössischen und etwas experimentellen Musik kann „Mein Herz brennt“ allerdings eine sehr interessante Erfahrung sein. Es ist zeitgenössische Musik, bestätigt Sänger René Pape, es sei weder Klassik noch Pop, kein Crossover, kein Rockgesang. Nach 15 Jahren als Sänger kam es ihm darauf an, sich von klassischen Opern zu lösen und um seiner persönlichen Entwicklung willen einen völlig neuen Weg zu gehen. Auch er hatte Rammstein nie vorher gehört oder die Band live gesehen. „Die Texte sind unglaublich stark und poetisch. Und trotz fast identischer Melodien sind in der neuen Instrumentation völlig andere Stücke entstanden.“

„Mein Herz brennt“ ist ein ungewöhnliches, bisweilen gewöhnungsbedürftiges Werk. Die Macher hoffen, dass ihr Projekt polarisieren und Anlass zu Kontroversen geben wird. Mit der Vorlage – die Texte von Rammstein – sollte dieses Ziel leicht zu erreichen sein. Das Werk provoziert durch seine Verbindung zur umstrittenen Rockband, die zwar Ursprung, aber am Ende auch Makel der neuen Vertonung ist. Die kalkulierte Plakativität eines Rammstein-Spektakels hätte „Mein Herz brennt“ nicht nötig, die bewegenden Texte waren allerdings grundlegend. Es bleibt abzuwarten, ob sich „Mein Herz brennt“ aus dem schwarzen Schatten Rammsteins lösen kann.

Von Carola Padtberg


Mein Herz brennt: Opernglas

Das Opernglas

Wenn das Herz brennt

November 2003

Wenn René Pape, Deutschlands führender Bassist, die Uraufführung von ungewöhnlichen Orchesterliedern singt, ist ihm Aufmerksamkeit sicher. Am 20. November in Dresden und tags darauf in Berlin erklingt erstmals der von Torsten Rasch (Jahrgang 1965) komponierte Liederzyklus «Mein Herz brennt», die CD zur Uraufführung ist mit René Pape vorab aufgenommen wurden. Allein die Tatsache, dass eine Komposition bewusst auf die Spätromantik und den Frühexpressionismus um Mahler/Strauss bezogen wird und damit nur wenig „Neues“ zur Entwicklung der Kunstform beiträgt, verdient differenzierte Beachtung.

In der Tat hat es der scheinbar rückwärts gewandte Zyklus «Mein Herz brennt» in sich, denn die Liedtexte sind zuvor als Rammstein-Lieder veröffentlicht worden. Rammstein, eine der radikalsten und umstrittensten Bands, die provozierend viel Krach- und Geräuschelemente in ihre „Musik“ aufgenommen hat und auch durch unangepasstes Äußeres anstößt. Rammsteins Texte offenbaren eine erstaunliche Vielfalt an emotionalen Zuständen und dramatisch wirkungsvollen Situationen, die förmlich nach einer reichhaltigen, expressiven Vertonung schreien – quasi dramatische Opernszenen im Heavy-Metal-Korsett statt ehrbarer Lyrik von Vertretern der „Hochkultur“. Wie der Komponist Rasch erklärt, geht es in seiner Komposition „um Verlust und Trauer. Am Ende existiert jedoch immer eine Versöhnung mit dem Ganzen. Man wird nie zurückgelassen mit dem Nichts.“ Zwangsläufig kommt er zu anderen Lösungen als die Band, deren gewöhnungsbedürftiger „Industrial-Metal-Stil“ weltweit von Millionen Fans gefeiert wird. Torsten Rasch fängt da an, wo Strauss und Mahler aufgehört haben.

Insbesondere dann, wenn Katharina Thalbach mit ihrer hexengleichen Stimme zur Musik spricht, meint man eine zweite Klytämnestra zu hören. Sie wird von einem Orchester begleitet, das auch Ausflüge in Richtung Schönberg oder Reimann wagt und farbigsten Sound im cineastischen Stil produziert. Also mal spätromantische, mal expressionistische Lieder, die dank der ungewöhnlichen Tontechnik an eigenem Format gewinnen. Während die Solisten René Pape und Katharina Thalbach im Vordergrund dominieren, spielen sich hinter ihnen klangliche Gewitter ab, die von Blech und Schlagwerk bestimmt, aber immer wieder von hohen Streicherkantilenen unterbrochen werden. Der reichhaltige, beim ersten Hören nur unvollständig zu erfassende, doch nicht überladen wirkende Orchestersatz erklingt mit deutlichen Veränderungen in der Balance der Instrumente und erfährt dadurch Klangnuancen und –effekte, die live so nicht erzielt werden können. Dass Katharina Thalbachs skurrile Sprechstimme in Liedern wie «Herzeleid» oder «Ich will» gespenstige Schauer erzeugt, wurde bereits angedeutet. René Papes Interpretation fußt hingegen auf der balsamischen Wirkung seines großen Basses und seinem erzählerischen Duktus. In «Mutter» psalmodiert er höchst wirkungsvoll auf kaum veränderter Tonhöhe, und auch der faszinierend gesungene «Seemann» fordert ihn stimmlich nicht heraus. Doch dann glaubt man, einen Wotan zu hören – so mächtig und heldisch, und dabei doch so sensibel und emotional singt er «Mein Herz brennt». Dieses Lied stellt sich dank Papes erstklassigem Zugriff als ein Höhepunkt des Zyklus’ heraus. John Carewe und die Dresdner Sinfoniker sorgen für die vorbildliche akustische Ausformung des Klangspektakels. Das vor fünf Jahren gegründete Orchester setzt sich übrigens aus Mitgliedern international führender Klangkörper zusammen und trifft sich ausschließlich zu Projekten zeitgenössischer Musik. Mit diesem Rammstein-meets-Klassik-Produkt untermauert es nachhaltig Potenzial wie Bedeutung, und der Klassik-Markt kennt nun eine neue, verblüffende Variante von Cross-over, die wegen der vertonten Seelenzustände keine leichte Unterhaltung ist. Ein Muss für Freunde üppiger Klänge.

Von M. Wilks


Mein Herz brennt: MOZ

Märkische Oderzeitung

Rammstein in neuer Dimension

24. November 2003

Dresdner Sinfoniker brachten Torsten Raschs Zyklus «Mein Herz brennt» zur Uraufführung

Dass sich große Sinfonieorchester der Interpretation so genannter U-Musik widmen, ist schon längst keine Seltenheit mehr. Dass sich die Genres vermischen, ist spätestens seit Frank Zappa enttabuisiert. Doch so mancher Rammstein-Fan wird vielleicht enttäuscht sein, da er in Torsten Raschs Neuvertonung der Lieder «Herzeleid» oder «Sehnsucht» nichts oder nur wenig von der Musik der Metal-Band wiederentdecken kann.

So wurde vor allem dem eingefleischten Anhänger des rockigen Genres Stiloffenheit abverlangt, als am Freitag in der Arena-Treptow in Berlin (tags zuvor im Dresdner Kulturpalast) Raschs Liederzyklus «Mein Herz brennt» seine Weltpremiere feierte. Denn zwar stammen sämtliche Texte der insgesamt acht Orchesterlieder aus der Feder von Rammsteinsänger Till Lindemann. Nichtsdestotrotz wird man mit einer klassischen, dabei ungewöhnlichen und experimentierfreudigen Komposition konfrontiert, die die kraftvolle Wortsprache in eine nicht minder kraftvolle, dabei feinfühlige musikalische Umsetzung einzubetten versteht.

Für qualitatives Höchstniveau sorgten die Dresdner Sinfoniker, die sich seit ihrer Gründung im Jahr 1997 ausschließlich der Interpretation zeitgenössischer Musik widmen. Unter der Leitung des Briten John Carewe, mit dem Star-Bass-Bariton René Pape und der Schauspielerin Katharina Thalbach glänzte ein hochkarätiges Ensemble und brachte nicht zuletzt durch die ihnen eigene Ausdrucksstärke und Professionalität das anfangs eher skeptische Publikum zum abschließenden Jubel. Einige wenige Buhrufer hatten zwischenzeitlich die Arena verlassen.

Besondere Dimension erhält das Werk durch die fein nuancierte Verbindung von sprachlicher und orchestraler Form. So schmeißt Katharina Thalbach mit rauher Stimme und rhythmisch auf den Punkt gebracht dem Publikum ein «Ich will» um die Ohren oder gibt sich eindringlich und melodiös den Versen von «Sehnsucht» hin. Sie spricht nicht nur, sie stellt dar. Demgegenüber schreit René Pape mit Stimmgewalt nach «Mutter» im gleichnamigen Lied, ohne dabei seinem stets weichen, abgerundeten Timbre Abbruch zu tun.

Die Idee, die sehr emotionalen, von menschlichen Urinstinkten sprechenden Texte von Rammstein neu umzusetzen, stammt von dem Jazz-Schlagzeuger und Dresdner Sinfoniker Sven Helbig. Schließlich konnte der Komponist Torsten Rasch für das Projekt gewonnen werden, das in seinem Ergebnis weit darüber hinausgeht, den Geist der Metal-Band einem neuen Publikum nahe zu bringen. Denn Musik spricht eine eigene Sprache, und somit führt die Neuvertonung zwangsläufig zu einer Neubewertung textlicher Inhalte. So setzt Rasch ganz klar neue Pointen, auch wenn er sich bisweilen auf Rammsteinische Motive bezieht. Zeitgenössische Elemente werden verwoben  mit klassischen und romantischen Traditionen sowie avantgardistischen Tönen des 20. Jahrhunderts. Mit dem oft sehr deutlichen Bezug auf Richard Strauss, Mahler oder Schönberg produziert Rasch üppige Klänge voller Pathos, weiß aber auch gezielt die leisen Töne einzusetzen. Die meist düsteren Texte gewinnen völlig neuartige, vielschichtigere Facetten, bleiben aber in dieser anderen Umsetzung auch der Brutalität und Finsternis der Originale treu. Ein Unterfangen, auf das sich einzulassen lohnt. Und da ist sowohl der Metal- als auch der Klassikfan über alle Maßen gefordert.

Von Claudia Große


Mein Herz brennt: ND

Neues Deutschland

Grandiose Symbiose

24. November 2003

Mein Herz brennt – Uraufführung von Torsten Raschs Orchesterliedern

Sein Gedichtband »Messer« bescherte Till Lindemann bei der Wahl zu den »100 peinlichsten Berlinern« im Stadtmagazin »Tip« einen unrühmlichen 21. Platz. Ein Schock-Rocker als Lyriker. Kein Wunder, dass seine Extrem-Verse schnell abgestempelt und belacht sind. Über Lindemanns Buch ein abwertendes Urteil zu treffen, ist ebenso leicht, wie die martialische Ästhetik seiner Band Rammstein zu verdammen. Wer sich nach dem Ort benennt, in dem 1988 bei einem Flugzeugunglück 74 Menschen starben, wer bei seinen brachialen Bühnenshows gestählte Körper in Flammen aufgehen lässt und in einem Videoclip auf die Leni-Riefenstahl-Bilder von den Olympischen Spielen 1936 zurückgreift, provoziert dazu, das Image von Menschenverächtern, gar Rechtsradikalen verpasst zu bekommen.

Umso erstaunlicher, dass es gerade Gedichte des »peinlichen« Lindemann waren, die am Beginn eines bemerkenswerten Projekts der Dresdner Sinfoniker standen. In deren Auftrag hat sich der Komponist Torsten Rasch acht Rammstein-Texten angenommen und sie für Orchester neu vertont. Entstanden ist der Liederzyklus »Mein Herz brennt«. Einen Tag nach der Dresdner Uraufführung war er am Freitag auch in Berlin zu hören. Den Anstoß zu dieser gewagten Symbiose gab Sven Helbig, Mitbegründer der Dresdner Sinfoniker. Vor Monaten stieß er auf Gedichte Lindemanns, die ihn wegen ihrer »Zerbrechlichkeit und Vergeistigung« faszinierten. Die starke Emotionalität dieser Texte habe sofort musikalische Assoziationen in ihm geweckt und ihn auf den Gedanken gebracht, sie einer Produktion seines Orchesters zu Grunde zu legen.

Rockmusik im klassischen Gewand ist längst keine Seltenheit mehr. Dass Texte einer Rockband aber zur Inspirationsquelle für die Komposition eines völlig anderen Werks werden, das gab es wohl noch nie. Mit großer Ernsthaftigkeit und viel Fantasie eröffnete Komponist Torsten Rasch den Rammstein-Texten ungeahnte klangliche Dimensionen. Ohne bemüht zu wirken, kombinierte er dabei musikalische Elemente von der Klassik bis zu Schönbergs Atonalität und schuf mit seinem Rammstein-Zyklus ergreifende, große Musik. Dass Rasch jahrelang als Filmkomponist gearbeitet hat, schlägt sich im unbeschreiblichen Assoziationsreichtum dieses Werks nieder.

In der kühlen Werkhallen-Tristesse der Berliner Arena, die ungleich besser zur Zerrissenheit dieser Musik passte als etwa die gediegene Atmosphäre des Konzerthauses oder der Philharmonie, schwoll der Klangkörper vom leisen, beängstigenden Flimmern zum monumentalen Zusammenklang an. Wiegende Streicher ließen das trügerische Bild einer ruhigen See entstehen, doch im Hintergrund kündete das Donnern der Pauke schon vom drohenden Unheil. »Komm in mein Boot« ertönte die Stimme von Bass-Bariton René Pape wie aus unbestimmbarer Ferne, die Rammstein-Melodie dehnend, verfeinernd, verfremdend: »Ein Sturm kommt auf, und es wird Nacht«. Ohne in platte Lautmalerei zu verfallen, vervielfachte das aufgewühlte Orchester das Text-Gefühl aufbrausender Angst, verzweifelter Einsamkeit: »Wo willst du hin,/ so ganz allein treibst du davon./ Wer hält deine Hand,/ wenn es dich nach unten zieht?« Grandios auch die Leistung von Katharina Thalbach als Sprecherin. »Lass mich deine Träne reiten«, deklamierte sie mit rauer, sehnsuchtsvoller Stimme, »übers Kinn nach Afrika«. In ein graues Leinenkleid gewandet, formte sie die Worte mit ihrem Körper, ihren Händen und ließ sie mit einer Intensität hervorbrechen, die um ihre Stimmbänder und um die seelische Belastbarkeit ihrer Zuhörer fürchten ließen. Doch die waren begeistert. Das Publikum, das hier zusammengekommen war, würde man so weder in einem klassischen Sinfoniekonzert noch auf einer Rammstein-Show vermuten. Ein paar Rocker, einige Weißhaarige, viele Dreißiger und Vierziger. Dass sie am Ende gemeinsam applaudierten, zeigt, dass das Experiment der Dresdner Sinfoniker gelungen ist.

Von Martin Hatzius