Kategorie: Medienecho

Mein Herz brennt: DNN

Dresdner Neueste Nachrichten

22. November 2003

Von zwei Standpunkten aus betrachtet: Die Uraufführung «Mein Herz brennt” im Kulturpalast

Einsamkeit, Sehnsucht, Verzweiflung

Was dem ehemaligen Kruzianer Torsten Rasch mit «Mein Herz brennt» gelungen ist, geht über eine bloße Instrumentierung weit hinaus. Er hat, scheint mir, einen Akzent in der zeitgenössischen Sinfonik gesetzt, ohne dass er überhaupt eine Sinfonie schreiben wollte. Die Größe des Vorhabens und mehr noch die Kombination aus handwerklichem Geschick und der Fähigkeit, eine Stunde lang durchgängig eine Atmosphäre zu schaffen, ordnen die acht Orchesterlieder und die wie eine Introduktion vorangestellten Variationen in eine Linie der Sinfoniegeschichte ein, die sich an so unterschiedlichen Persönlichkeiten wie Berlioz, Mahler, Messiaen, Theodorakis und Górecki festmachen lässt.

Allen diesen Kompositionen ist gemeinsam, dass sie weniger den überkommenen Formenkanon der Sinfonie umgesetzt, sondern in einer der Sinfonie entlehnten Großform ein persönliches Klima erzeugt haben. Das kann je nach Thema des Werks und der individuellen Erfahrung zu völlig unterschiedlichen Stimmungen führen.

Rasch hat die Stimmung der Melodien und Texte von Rammstein übernommen und daraus ein Werk geschaffen, das mehr als die Summe seiner Einzelteile ist. Es ist stärker als die Vorlagen, die als Einzelstücke für sich stehen sollen und können, und es ist ein musikalischer Komplex entstanden, der in sich geschlossen ist, obwohl die Reihenfolge und die Zahl der Teile durchaus auch anders sein könnten.

Das Entscheidende an diesem Werk ist die suggestive Atmosphäre, die bei Rammstein anlegt und von Rasch extrem überhöht ist. Von heller und freundlicher Stimmung kann keine Rede sein. Sehnsucht ist noch das Positivste, was uns da entgegentritt; Einsamkeit und Verzweiflung dominieren und entfalten eine Sogwirkung, der man sich nur durch einen bewussten Verweigerungsakt entziehen kann, wenn man nicht Gefahr laufen will, ins Bodenlose zu fallen.

Da hilft auch die ironische Distanzierung nicht, die Katharina Thalbach in «Herzeleid» erzeugt. Dort und in «Ich will» findet sich sogar etwas, das als sinfonischer Rap bezeichnet werden könnte. René Pape sang seine umfangreiche Basspartie mit großer Noblesse und Einfühlsamkeit, ohne den Eindruck einer falschen Identifizierung mit den Textaussagen hervorzurufen. Und John Carewe leitete die Dresdner Sinfoniker mit großer Souveränität. Alle Interpreten hatten ja schon die CD-Einspielung hinter sich und waren dadurch optimal auf das Live-Konzert vorbereitet.

Torsten Rasch hat einen Talentbeweis vorgelegt, der den Eindruck seines Melodrams «Völuspa – Der Seherin Gesicht» vom August 2000 deutlich übertrifft. Vielleicht waren die begeisterten Zuhörer im Kulturpalast Zeugen eines Karrieresprungs, dessen Ende noch nicht abzusehen ist. Nach «Mein Herz brennt» sollte man den Dresdner Rasch für durchaus fähig halten, die zeitgenössische Musik noch um einiges mehr zu bereichern.

Von Peter Zacher

 

Tränenritt zu Mutters Schoß

Rammstein – schon seit jeher ein Stein des Anstoßes im wahrsten Sinne des Wortes, und, neben der straßenbautechnischen Bedeutung eine grausige Vokabel neuerer deutscher Geschichte. Der Ort, an dem Märchen enden. Eine Band als Zerreißprobe für die Gemüter der Popkultur, spielend mit Mythen, Urinstinkten und Tabus. Was unter Musikkritikern mittlerweile gelegentlich als zu eingefahrenes Schema gehandelt wird, operiert mit brachialen, kalten Sounds, sexuell ausgesprochen expliziter Lyrik und dem, was besorgte Mütter und desinteressierte Lehrer gern als «gewaltverherrlichend» abstempeln. Andere sind weiter gegangen, zu Unrecht wurden die Berliner des öfteren in die rechte Ecke geschoben. Was nur zeigt, was diese zwischen Schönheit, Grausamkeit, Kälte und Obszönität wandelnde und doch intelligente Provokation heraufbeschwören kann. Die Bedeutung dieses musikalischen Experiments für und sein Einfluss auf die zeitgenössische, auch populäre Kunst ist nicht zu leugnen, trotz des Eindrucks von Banalität, den es bei vielen hinterlassen mag.

Till Lindemanns Lyrik ist zweifelsohne ein hervorragender Stoff für das, was nun von manchem als erster klassischer Liederzyklus des 21. Jahrhunderts gepriesen wird und am Donnerstag im Kulturpalast seine Uraufführung erlebte. Wer an die direkt in Gehör und Blut gehende Stringenz und melodiöse Harmonie Rammsteins gewohnt war, sollte es an diesem Abend schwer haben, aber deshalb keineswegs schlecht. Die Neu-Kompositionen Torsten Raschs, die unter dem Titel «Mein Herz brennt» zusammengefassten Stücke sind Interpretationen, die die Dresdner Sinfoniker unter dem Dirigat von John Carewe auf eine zeitgenössisch-klassische Ebene hoben, weit, weit entfernt vom tausendsten Rock-meets-Klassik-Ramsch dieser diesbezüglich so unseligen Tage.

Als Krone des Ganzen stellte sich jedoch die Besetzung des Sangesparts durch René Pape und der Sprechrolle durch Schauspielerin Katharina Thalbach heraus. Die acht Stücke beginnen mit einer Ouvertüre, die hinter den noch zurückhaltenden Streichern allerhand percussionistischen Kleinkram offenbarte – ein Klingklang verschwommener Märchen, geschöpft aus einem dunklen Wasser, das Tier in uns, unsere verborgensten Ängste und Triebe herausfordernd – ein gut gedrehter Strang, der auch für den Rest der Aufführung nicht verloren ging.

«Mutter» eröffnet den Reigen der eigentlichen Stücke, und René Pape stößt eben jenes Wort zwischen Strophen so eruptionsartig und gedrungen hervor, dass ich als nicht gerade an dieses Sujet gebundener Rezipient die längste Gänsehaut erfahren durfte, die mir bislang von klassischer Musik geboten wurde. Doch vergessen wir nicht Katharina Thalbach, die Seltsame, der man anmerkt, wie gern sie das Dämonische herausarbeitet, ihre Stimme zum Ton des bösen Propheten-Zwergs zwingt, der vor Zweisamkeit warnt, am Rand zur Lächerlichkeit, aber keinen Schritt weiter. Herzeleid, Herzeleid! Und eine brillante Thalbach.

Die Aufführung schließt mit einem der betörendsten Texte des Zyklus – «Alter Mann». «Das Wasser soll dein Spiegel sein/Erst wenn es glatt ist wirst Du sehen/Wieviel Märchen dir noch bleibt/Und um Erlösung wirst du flehen.» Stehende Ovationen für dieses wundervolle Stück poetischer Desillusionierung.

Von Norbert Seidel


20 Jahre: DNN 3

Dresdner Neueste Nachrichten

Uraufführung in amerikanischem Spannungsbogen

03. November 2018

Dresdner Sinfoniker feierten mit ihrem Publikum beim Jubiläumskonzert im Erlwein Capitol

2018 ist ein Jahr zahlreicher „runder“ Jahrestage, die, angefangen beim 2. Prager Fenstersturz, durchaus nicht sämtlich als Jubiläen anzusehen sind. Die Dresdner Sinfoniker sind ein vergleichsweise junges Orchester, dessen Mitglieder und Protagonisten dennoch in reifere Jahre gekommen sind, was sich aber durchaus positiv sehen lässt, nicht zuletzt in puncto Welt- und Weitsicht. Das Jubiläumskonzert, das ziemlich programmkonform im Rahmen der Dresdner Jazztage im Erlwein Capitol über die Bühne ging, spannte den Bogen zwischen zwei Gedenktagen mit einer Uraufführung, die ebenfalls mittlerweile musikhistorische Aspekte bediente. Das alles entsprach durchaus dem Grundprinzip, das Kunstministerin Eva- Maria Stange (SPD) in ihrem ohne Anmoderation vorgetragenen Grußwort gelobt hatte. Nämlich immer wieder innovative Grenzgänge zwischen Kulturen und Ausdrucksformen zu unternehmen und mit allem Spaß an der Sache für Toleranz und humane politische Anliegen einzutreten. Wie provokant und „gegen den Strom“ das wirken kann, hängt auch vom äußeren Rahmen ab.

Den Anfang machte man mit Frank Zappa (25. Todestag am 4. Dezember) und seinem 19-teiligen Orchesterwerk „Yellow Shark“, von dem allerdings nur drei Parts geboten wurden. Auf den Be-Bop Tango, der gerade so ausreichte, um sich in Zappas vertrackte Rhythmik und schwer berechenbare Melodiebögen einzuhören, folgte mit Peter Till ein Solist ganz besonderer Art, der seit übrigens auch 20 Jahren sein immer weiter vervollkommnetes Universal Druckluftorchester spielt bzw. ansteuert. Diesmal hatte eine Art (senkrecht stehendes) Marimbaphon Premiere – „weil die Partitur es verlangte“. Tills Version des „Uncle Meat“ erwies sich als frech, witzig, voller Überraschungen, schlicht kongenial. Das Zusammenspiel beider „Klangkörper“ lebte auch von deren skurril anmutender und trotzdem weitgehend souveräner Kompatibilität. Der neben den anderen Protagonisten vorab viel zu wenig gewürdigte Till ist aber eben nicht nur ein geschickter Bastler oder Maschinist, sondern ein Erzmusiker, der als Grenzgänger zwischen den musikalischen Welten den Sinfonikern auf Augenhöhe „von der anderen Seite“ entgegen kommt.

Für die aufkommende Begeisterung blieb nur wenig Zeit. Dass die folgende Uraufführung von Andreas Gundlachs „Quartüüryum“ unter keinem so günstigen Stern stand, lag aber in erster Linie an der kurzfristigen Absage des Pianisten Andreas Boyde aufgrund eines Todesfalls. Das Konzert für Synthesizer, Klavier und Orchester dennoch über die Bühne zu bringen, verdient allein schon allen Respekt. Das Stück, das laut Komponist ursprünglich eigentlich „Lallejuha“ (ironisierendes Anagramm von Halleluja) heißen sollte, traktiert Musiker und Hörer
ergo mit verschachtelten Quarten bzw. mit viertönigen Sequenzen, und zwar weit weniger ausgeklügelt intellektuell als durchaus lustvoll, und das übertrug sich trotz der zusätzlichen Anspannung und ohne Zusammenspiel zweier Solisten. Am Beginn stehen u.a. gezogene Intervalle (typisches Stilmittel des Synthesizers, zumal bevor er erwachsen und polyphon wurde). Tonwellenschaukeln, im Orchester aufgenommen durch die Streicher und wohl auch Posaunen, bald abgewandelt in beinahe pathetische, filmreife Klangfarbenspiele. Ähnliches geschieht, wenn das Klavier mit anspruchsvollen quartenbetonten Läufen jazzverwandte Rhythmik zaubert, die dann wieder konterkariert wird von harschen Orchesterschlägen oder fast verträumter Lyrik der tiefen Bläser; da fällt es nicht immer leicht, den Faden zu behalten. Ein Vergleich zu Zappas Bezügen zur amerikanischen Musiktradition wäre nicht nur interessant, sondern auch erhellend gewesen.

Der zweite Teil des Abends war der konzertanten Uraufführung der Rockoper „El Resplandor de los Disidentes“ vorbehalten, die an Ereignisse des Jahres 1968 in Mexiko erinnert, die man in Europa kaum wahrgenommen hat, weil man hier mit Paris und Prag beschäftigt bzw. der Fokus nur auf Olympia im Land der Azteken gerichtet war. Aber auch dort waren tausende junge Leute gegen das Establishment und die Verhärtung überkommener Strukturen auf die Straße gegangen, ihre Hoffnungen hatte man mit Waffengewalt zunichte gemacht. Das Werk des erst 1974 geborenen Enrico Chapela (der selbst E-Gitarre spielte) zeichnet sich u.a. dadurch aus, dass es das Orchester mit seinem ausdrucksvollen Streicherapparat und dem satten Bläserklang nicht zum Begleitinstrument degradiert. Dabei klingt es, als sei es tatsächlich in der Zeit, also parallel zu dem US-amerikanischen Musical „Hair“ entstanden. So hat es etwas vom naiven Pathos jener Zeit und von ihren bescheidenen, dennoch bis heute nicht verwirklichten Utopien bewahrt. Es schöpft aus der Folklore und kommt mit vergleichsweise einfachen, erst aufrüttelnd stampfenden, später differenzierteren Rhythmen und lyrischen Klangstrukturen daher. Scheinbar ein inhaltlicher Widerspruch, der sich aber in einer immer stärker spürbaren Haltung eines alternativlosen „Trotz alledem“ auf- löst. Dadurch erscheint auch das Sänger- Quartett glaubwürdiger, dessen Mitglieder nach Bedarf die Rollen von mutigen Studenten, opportunistischen Beamten, beflissenen Militärs und, etwas herausragend, des zynischen Präsidenten einnehmen.

Ein Abend, bei dem es um viel Bedenkenswertes ging, nicht aber um vordergründige Virtuosität. Ganz unspektakulär sicher hielt auch hier Premil Petrovic aus der zweiten Reihe die Fäden in der Hand.

Von Thomas Petzold


20 Jahre: DNN 2

Dresdner Neueste Nachrichten

20 Jahre Dresdner Sinfoniker: Von der Biergartenidee zum Weltklasseorchester

30. Oktober 2018

Die Dresdner Sinfoniker sind mit Abstand das konservativste Orchester in Sachsen: Sie bleiben einfach nur ihrem Innovationsdrang treu, ihrer Lust an der Musik und ihrem beharrlichen Einmischen in die Belange des Humanismus. Jetzt feiern sie ihr 20-jähriges Bestehen.

Die Dresdner Sinfoniker sind engagierte Grenzgänger zwischen Kulturen und bleiben auch in ihrem Jubiläumsjahr ihrem eigenen Anspruch treu, mit Musik aus aller Welt ganz real in alle Welt hineinzuwirken. So wird auch das am 1. November anstehende Konzert „20 Jahre Dresdner Sinfoniker“ ein Bekenntnis zur zeitgenössischen Musik und mit dem Bestreben verbunden sein, bestehende Grenzen mit friedlichen, mit musikalischen Mitteln zu überwinden. Das 1997 von Sven Helbig und Markus Rindt initiierte Orchester setzt sich aus Musikerinnen und Musikern bedeutender europäischer Klangkörper zusammen und tritt stets für eigens initiierte Projekte in Erscheinung. Mitglieder der Dresdner Philharmonie und der Sächsischen Staatskapelle musizieren darin gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen aus Berlin, Leipzig und Wien. Ensembles wie das Kronos Quartet, Gäste wie Katharina Thalbach, Peter Damm, Andreas Boyde, Peter Bruns, René Pape, Bryn Terfel und viele andere haben bereits mit dem Orchester musiziert.

Herausgekommen sind unvergessliche Projekte wie die spektakuläre „Hochhaussinfonie“ von 2006 mit den Pet Shop Boys, zwei Jahre später das erste Ferndirigat der Welt mit Michael Helmrath sowie 2010 das als anatolische Reise apostrophierte Stück „Hasretim“, eine sehnsuchtsvoll musikalische Suche nach kultureller Identität, die der Komponist, Gitarrist und Produzent Marc Sinan gemeinsam mit Musikern aus Aserbaidschan, Kasachstan und Usbekistan für eine zeitlos aktuelle Version des zentralasiatischen Mythos’ um „Dede Korkut“ mit diesem Klangkörper realisiert hatte. Als Reaktion auf den anhaltenden Konflikt zwischen Israel und Palästina gab es 2013 die „Symphony for Palestine“, das Massaker an tausenden Armeniern wurde zwei Jahre später – 100 Jahre nach dem von der türkischen Regierung bis heute geleugneten Genozid – in dem vielbeachteten deutsch-türkisch-armenischen Konzertprojekt „[aghet] – [ağıt]“ thematisiert. Aktuell wurden auch der militärisch ausgetragene Konflikt zwischen Russland und der Ukraine mit „Panzerkreuzer Potemkin“ sowie – nach dem transkontinentalen Konzert zur Zeitenwende der Maya, das Ende 2012 zeitgleich von Musikern in Mexiko und Dresden aufgeführt wurde – das Konzert „Tear Down This Wall“ zum umstrittenen Grenzprojekt der USA aufgeführt.

Aller Internationalität zum Trotz bekennt sich dieses Orchester zu seiner Herkunft, die es im Namen trägt und die nicht zuletzt auf den Impuls in einem Biergarten an der Elbe zurückgeht. Zu Hause aber ist es in aller Welt. Auftritte in Athen, Berlin, London, Madrid und Paris gab es ebenso wie in Armenien, Griechenland und Israel, in Mittelamerika an der Grenze zwischen Mexiko und den USA sowie in der Türkei und im Westjordanland. Die Dresdner Sinfoniker wollen nicht, dass der Welt und den Menschen weiterhin all das angetan wird, was aus Hass und Unrecht geschah und geschieht. Aus neuem Unrecht erwächst nur neuer Hass, davon sind sie überzeugt. Dass sie mit Musik für eine bessere, für eine gerechtere Welt sorgen wollen, ist ehrliches Engagement und speist sich aus der Anteilnahme am Geschehen um uns herum. Die Dresdner Sinfoniker sind davon überzeugt, dass es kein fremdes Leid gibt, darum widmen sie ihre Projekte den Missständen und Massakern, dem Trennenden und Verleugneten ebenso wie dem Gemeinsamen und Verbindenden.

Das Jubiläumskonzert der Dresdner Sinfoniker – die 2000 mit dem Kunstförderpreis der Stadt Dresden ausgezeichnet wurden – soll an diese Traditionen mit gleich drei Uraufführungen erinnern. Musik vom Altmeister Frank Zappa erklingt in einem völlig neuartigen Engagement mit dem Universal Druckluftorchester von Peter Till. Der Klangtüftler passt ebenso zu Zappas Œuvre wie zum Experimentierwillen der Sinfoniker und wird sein seit 1998 bestehendes Druckluftorchester auf Zappas letzte große Hinterlassenschaft „The Yellow Shark“ (1993) einstimmen – was insofern eine Herausforderung ist, dass die programmierte Pneumatik punktgenau von den Musikerinnen und Musikern aufgegriffen werden muss. Das eigens zu diesem Konzert entstandene Stück „Quartüürium“ von Andreas Gundlach wird der Komponist an den elektronischen Tasteninstrumenten und am Flügel interpretieren. Er ist den Dresdner Sinfonikern schon lange verbunden und wird auch in dieser der Quarte verschriebenen Arbeit – seinem ersten Orchesterwerk – eine genreverbindende Grenzüberschreitung bestreiten, die Jazz und Sinfonik ineinanderfließen lässt.

Derlei Vielfalt trägt die Rockoper „El Resplandor de los Disidentes“ des mexikanischen Komponisten Enrico Chapela bereits in ihrem Titel. Ihre konzertante Uraufführung zum Jubiläumskonzert steht ganz und gar in der Traditionslinie der Sinfoniker, denn sowohl die innovative Musiksprache dieses Künstlers mit ihren engen Verflechtungen von Folklore und klassischer Moderne als auch die klare Position einer Protesthaltung gegen Gewalt zählen zu den Eckpfeilern. Der 1974 in Mexiko-Stadt geborene Komponist, Gitarrist und promovierte Musikwissenschaftler Chapela hat in dieser Oper auf tatsächliches Geschehen zurückgegriffen und wird mit seiner Rockoper in die nahezu weltweiten Protestbewegungen von 1968 zurückführen. Eines der tragischsten Kapitel jener Zeit war das Massaker vom 2. Oktober 1968, bei dem auf der Plaza de las Tres Culturas im mexikanischen Tlatelolco hunderte Studenten ermordet worden waren. Chapela setzt den Mutigen von damals nun mit „El Resplandor de los Disidentes“ (etwa „Der Glanz der Dissidenten“) ein klingendes Denkmal, das wohl bestens zur engagierten Arbeit der Dresdner Sinfoniker passt. Als nachträgliches „Geburtstagsgeschenk“ erhält Intendant Markus Rindt Anfang Dezember den Erich-Kästner-Preis des Dresdner Presseclubs für das vielfältige Engagement gegen Nationalismus, Fanatismus und Abschottung.

Von Michael Ernst


20 Jahre: SäZ

Sächsische Zeitung

Nicht improvisieren? Geht nicht!

30. Oktober 2018

Irgendwas ist immer. Andreas Gundlach gibt am Montag zur Probe diese Binsenweisheit zum Besten und bleibt völlig entspannt. Wenige Stunden zuvor ist ihm sein eigenes Werk auf die Füße gefallen. Beim Konzert zum 20. Geburtstag der Dresdner Sinfoniker muss improvisiert werden. Es gehört zu diesem Klangkörper. Und es passt zu den Jazztagen Dresden, die damit am Donnerstag im Ostrapark eröffnet werden.

Gundlach, ein Urgestein der Sinfoniker und in Dresdens Jazzszene bestens bekannt, hat zum Anlass ein halbstündiges Konzert für Klavier, Synthesizer und Orchester geschrieben. Der Klavierpart war Andreas Boyde zugedacht. Dieser sagte seinen Auftritt am Morgen wegen eines Todesfalls im engsten Familienkreis ab. Ersatz wird drei Tage vor dem Konzert gar nicht erst gesucht. Gundlach, der sich auf seiner Website treffend als „Multitas-King“ präsentiert, übernimmt selbst und springt zwischen den Klaviaturen hin und her. „Aber ich muss natürlich improvisieren“, sagt er, ohne dass seine Vorfreude von irgendeinem Bangen getrübt scheint.

Als sich die Dresdner Sinfoniker formierten, hatten sich die Gründer Sven Helbig und Markus Rindt auf das Debütkonzert 1998 konzentriert. Das stand unter der Schirmherrschaft von Yehudi Menuhin, der den grenzüberschreitenden Ansatz begrüßte. „Wenn ich heute auf über siebzig verschiedene Projekte und wunderschöne Tourneen zurückblicke, muss ich zugeben, dass ich mit dieser Entwicklung am Anfang nicht gerechnet hätte“, sagt Markus Rindt, der seit Helbigs Weggang als alleiniger Intendant das Orchester leitet.

Besonders sind die Aktivitäten der vergangenen Jahre im Ausland, die die Musiker gemeinsam mit Kollegen der jeweiligen Regionen veranstalten. Auslöser der „Symphony for Palestine“ war der Tod eines Kindes, das für einen Kämpfer gehalten und erschossen wurde. Vor einem Jahr protestierten die Dresdner Sinfoniker an der mexikanisch-amerikanischen Grenze mit dem Konzert „Tear down this Wall“ gegen den von US-Präsident Donald Trump geplanten Mauerbau. Dies gab Anlass, den diesjährigen Erich-Kästner-Preis an Markus Rindt zu vergeben.
Politisch brisant ist denn auch die Geschichte hinter der Rockoper „Disidentes“, die am Donnerstag eine konzertante Vorab-Aufführung erlebt. Komponist Enrico Chapela verarbeitet darin das Massaker an Studenten, die 1968 in Mexiko für Reformen auf die Straße gingen. Keine typische Geburtstagsmusik, aber typisch Dresdner Sinfoniker wie die Wahl des Dirigenten. Premil Petrovic, der schon beim Projekt „Aghet“ am Pult stand, leitet dieses Jubiläumskonzert. In seiner Heimat gründete er das No Borders Orchestra, ein Zusammenschluss von Musikern aus Ländern des ehemaligen Jugoslawien, wider den politischen Gegenwind.

Für positiven Wind wird gleich anfangs eine seltene Apparatur sorgen: das Universal Druckluft Orchester Dresden. Unter einem lustig im Takt hüpfenden gelben Schirm surren Maschinen des Erfinders Peter Till. Das Orchester aus programmierten Druckluftgitarren, pneumatischen Bläsern und Perkussion spielt ohne Rücksicht auf lebende Musikanten. Es zieht durch und die Dresdner Sinfoniker proben mit Energie, um bei Frank Zappas furiosem „G-Spot Tornado“ Schritt zu halten. Auch Andreas Gundlach rast am Klavier mit. Er wird kaum Mühe haben. Kollegen fragen: Wie kann man nur so gut sein? Sein Konzert hat der ehemalige Kompositionsschüler von Rainer Lischka „Quartüüryum“ genannt. Wegen der vielen Quarten in dieser lebhaft sprudelnden Musik. Zu Ehren des Esten Erkki-Sven Tüür, den Gundlach verehrt. Und schließlich sei das selbstausbeuterische Dasein eines Dresdner Sinfonikers ein Martyrium. Da bleibt nur anhaltender Idealismus zu wünschen.

Von Karsten Blüthgen


20 Jahre: DNN 1

Dresdner Neueste Nachrichten

Brennende Herzen gegen Massaker und Mauerbau

02. Juli 2018

Die Dresdner Sinfoniker könnten heute ihr 20jähriges Bestehen feiern. Könnten, doch das dazugehörende Geburtstagskonzert soll es erst Anfang November geben. Dann aber mit einem spannungsvollen Programm, zu dem reichlich Druckluft sowie Uraufführungen gehören werden. Darunter auch eine Rockoper mit gesellschaftlichem Engagement.

Eine Band wollten sie gründen, herausgekommen ist ein ganzes Orchester. Ein virtuelles Orchester, dessen Musikerinnen und Musiker hauptsächlich in den großen Dresdner Klangkörpern wie Philharmonie und Staatskapelle, aber auch in Berlin, Wien und andernorts tätig sind. Für spezielle Projekte jedoch treffen sie sich als Dresdner Sinfoniker und gastieren mit ihrer meist recht speziellen Musik in (fast) aller Welt.

Genau heute vor 20 Jahren gab es das Gründungskonzert im Dresdner Kulturpalast, es stand unter der Schirmherrschaft von Yehudi Menuhin, weil der von der grenzübergreifenden Gründungsidee der beiden Initiatoren sofort überzeugt gewesen ist. Selbst Ulrich Wickert berichtete schon am Vorabend in den Tagesthemen von der auf Sven Helbig und Markus Rindt zurückgehenden Initiative. Helbig hat das Ensemble inzwischen zugunsten eigener Projekte verlassen, Rindt ist Intendant der Sinfoniker und hat die zwei Jahrzehnte gestern schon mal Revue passieren lassen.

Für das allererste Konzert ist Dirigent Jonathan Nott aus Luzern nach Dresden gekommen, bald darauf gab es mit „Mein Herz brennt“ zu Texten der Band Rammstein, die der Komponist Torsten Rasch neu vertont hatte, großes Aufsehen weit über Genre- und Landesgrenzen hinaus. Die wohl gravierendste Folge war ein Anruf der Pet Shop Boys, mit denen wenig später Raschs Filmmusik zu Sergej Eisensteins Opus „Panzerkreuzer Potemkin“ auf dem Londoner Trafalgar Square aufgeführt worden ist, vor rund 35 000 Menschen. Daraus wurde zur 800-Jahr-Feier von Dresden dann die spektakuläre „Hochhaussinfonie“ auf der Prager Straße, ebenfalls gemeinsam mit den Pet Shop Boys. Nach einem aus London übertragenen Ferndirigat von Gründungsmitglied Michael Helmrath und massenkompatiblen Kompositionen wie der Ouvertüre zu „Star Wars“ von John Williams wuchs in jüngerer Zeit das gesellschaftspolitische Engagement der Sinfoniker. Und damit auch deren Mut und Risikofreude sowie die internationale Beachtung.

Insbesondere seit der deutsch-türkische Musiker Marc Sinan zu den Dresdner Sinfonikern gestoßen ist, gibt es enge Kontakte in Länder des Mittleren und Nahen Ostens sowie nach Mittel- und Südamerika. Mit Großprojekten wie „Hasretim – eine anatolische Reise“, der „Symphony for Palestine“ sowie dem interkontinentalen Konzert auf das Ende des Maya-Kalenders (und dem damit bevorstehenden Weltuntergang) erspielten sich die Sinfoniker ein internationales Publikum. Einen herausragenden Stellenwert in der Orchestergeschichte nahmen 2016 „Aghet“ als Erinnerung an den türkischen Genozid von 1915 (dem Hunderttausende Armenier zum Opfer fielen) und im vergangenen Jahr „Tear down this Wall“ ein, eine Anklage gegen den von US-Präsident Trump geplanten Mauerbau an der mexikanischen Grenze.

Wer in den 20 Jahren seines Bestehens eine solche Erfolgsgeschichte aufzuweisen hat, muss das Jubiläum natürlich zünftig feiern. Die Dresdner Sinfoniker werden dies nicht heute tun, sondern mit einem musikalischen Fest am 1. November im Erlwein Capitol nachholen, versprach Intendant Rindt gestern Mittag. Das Konzert bildet gleichzeitig die Eröffnung der Jazztage Dresden. Drei große Vorhaben kündigte Rindt für dieses Jubiläumskonzert an, zunächst einen Ausflug in die „Yellow Shark“-Welt von Altmeister Frank Zappa, der von den Sinfonikern gemeinsam mit dem Druckluft-Orchester von Peter Till ausgetragen werden soll. Mit den beiden in Dresden ausgebildeten Pianisten Andreas Gundlach und Andreas Boyde gibt es „Quartüürium“ für Klavier, Synthesizer und Orchester, das Gundlach gestern in ganz kurzen Kostproben bereits vorgestellt hat. Den krönenden Abschluss der Geburtstagsmusik wird „El Resplandor de los Disidentes“ des mexikanischen Komponisten Enrico Chapela darstellen, eine Rockoper über das im Oktober 1968 an protestierenden Studenten verübte Massaker von Mexico City. Die musikalische Leitung dieses Mammut-Unterfangens zum Geburtstag der Dresdner Sinfoniker übernimmt mit dem serbischen Dirigenten Premil Petrovic der Gründer und Chefdirigent des No Borders Orchestra, ein guter Bekannter des klangreichen Jubilars.

Von Michael Ernst


Dada: Dresdner

Dresdner Kulturmagazin

Der Himmel grünt so rot

14. September 2019

Cie. Freaks & Fremde verraten im Soci, »Wie Dada nach Dresden kam«

Tobias Herzz Hallbauer hats nicht leicht. Er sitzt mitten im Publikum, eingesperrt in einen doch recht eng wirkenden Plexiglaskasten. Aus dem heraus skandiert er mal mehr mal weniger im Stakkato historische Textzeugnisse über das kurze Leben des Dada in Dresden vor knapp 100 Jahren. In ähnlich hämmernden Rhythmen darf Andreas Boyde mit Genuss das Klavier bearbeiten.

A-Sinn, Non-Sense, Widersinn. Man muss für dergleichen offen sein, um zu erkennen, dass im Dada vermeintlicher Unsinn zwar ein Heidenspaß ist, trotzdem aber eine reflektierte Kopfsache. Und weil Dada nicht in seine Zeit gehörte, sich ja direkt darüber definierte, in keine Zeit zu gehören, ist dieser Abend, den die Cie. Freaks & Fremde gemeinsam mit den Dresdner Sinfonikern gebastelt hat, so ziemlich unerhört. Also ganz so, wie er sein sollte. Heiki Ikkola und Shahab Anousha geben die Bühnenclowns in derart linkisch-sympathischer Manier, dass ihre Filzhüte eine direkte Reverenz an Becketts Didi und Gogo aus »Warten auf Godot« sind. Shahab Anousha darf in einer eigenen Szene sogar mittels eines Mikrofons und akustischer Rückkopplung seinen eigenen Dada-Text kreieren. Das ist schlichtweg Dada für das 21. Jahrhundert. Besser geht’s wahrscheinlich nicht. Und Tom Quaas darf nachdrücklich krächzend und brüllend Deutschland »über alles in der Welt« lobpreisen, dass es ihm fast den Kehlkopf raushaut. Die Kunst ist in Gefahr, die Kunst ist tot.

Das besondere an Dada war ein hemmungsloses Ineinandergreifen von Schrift, Bild, Stimme, Musik und Performance. Das hat zur Folge, dass dieser Abend in seinem ungestümen Charakter keiner Dramaturgie folgt. Dada ist eben ungemütlich und anstrengend. Wie ungemütlich genau diese halb künstlerisch, halb politisch gestaltete Geste wirklich ist, bekommt das Publikum spätestens dann zu spüren, wenn es von Heiki Ikkola mit Wasser vollgespritzt wird. Natürlich läuft das nicht auf Kosten des Zuschauers ab. Und sicherheitshalber wird das auch noch erläutert: Ein herrlicher Blödsinn sei das, eine ungeheure Ironie, heißt es. Die Kenntnis des Unsinns gilt als der wirklicher Sinn der Welt. Das klingt fast ein bisschen wie eine Entschuldigung für einen schwerelosen Abend der künstlerischen Freiheit, der vor 100 Jahren nicht nur eine andere Wirkung gehabt hätte, sondern zweifelsfrei noch viel derber ausgefallen wäre. Aber die Zeiten ändern sich halt.

Rico Stehfest


Dada: DNN

Dresdner Neueste Nachrichten

Im Zeichen des Wilden und des Wandels

10. September 2019

Andreas Nattermanns Abschiedsspielzeit im Societaetstheater startet mit einem Dada-Spektakel.

Die neue Spielzeit am Societaetsheater steht im Zeichen des Wandels und endet erstmals mit Walpurgisnacht. Denn dann wird Geschäftsführer Andreas Nattermann feierlich in die verdiente Rente gehen und Heiki Ikkola das Zepter im übernehmen, um die 21. Spielzeit der Neuzeit des Bürgertheaters in Dresdens Barockviertel gediegen zu Ende zu führen.

Doch, so betonten beide im Vorfeld, werde dieser Wechsel – ganz entgegen der üblichen Sitte heutzutage – als kollegialer Wandel zelebriert, werden die Geschäfte genau wie gelassen übergeben und die Maifeier keine Revolution, wobei bislang nur der Spielplan bis dato vorgestellt wurde. Doch der hat es in sich: zwei Festivals und sechs Premieren, wobei mit „The Sound of Bronkow“ als musikalisches Vorspiel von Kumpels & Friends schon eines davon geschafft ist und auch in der zehnten Auflage zum Fest geriet, bevor es 2020 in eine Denkpause gehen will (DNN berichtete).

Auch die erste Theaterpremiere lässt aufhorchen: „Wie Dada nach Dresden kam“ widmet sich als Uraufführung den wilden Zeiten vor just 100 Jahren. Denn da brach der Dadaismus als künstlerische Gesellschaftsform in die konservative Welt der frisch königslos-revolutionierten Hauptstadt der Freien Kurzzeitrepublik Sachsen mit arg bleihaltiger Luft ein. Komponisten wie der Prager Erwin Schulhoff oder Maler wie Kurt Günther, Otto Griebel und Otto Dix widmeten sich bis 1922 offensiv mit skurrilen Aktionen oder Aufführungen einer Revolte gegen Zeitkunst.

Nun finden Cie. Freaks und Fremde, verstärkt um Musikus Tobias Herzz Hallbauer sowie Markus Rindt als Intendant der Dresdner Sinfoniker zwecks Ständchen oder Ode zueinander, bereiten sich intensiv samt Puppen und Instrumenten vor, wollen aber zuvor artgerecht nicht den ganzen Akt als Durchlauf proben. Wenn die intellektuelle Begeisterung bei der Präsentation halbwegs auf die Bühne kommt, steht ein improvisiertes Spektakel bevor, was aber wohl nur zwei Mal am 13. & 14. September erlebbar sein dürfte. Mit auf dem DD-Dada-Dampfer dabei: Tom Quaas, auch als Sänger und in Frauenrolle. Damals war es übrigens so, dass alles andere als ein Abbruch via Skandal plus Saalprügelei nicht als Erfolg gegolten hätte.


Neue Meister: DNN

Dresdner Neueste Nachrichten

Zwei Orchester blühen auf

17. Juni 2019

Musaik-Kinderorchester und die Dresdner Sinfoniker spielen gemeinsame Uraufführung

(…) Nach vielen Auftritten im Viertel haben sich die Prohliser nun mit den Dresdner Sinfonikern zusammengetan, um ein ambitioniertes Projekt auf die Beine zu stellen: eine gemeinsame Uraufführung aus der Feder des Komponisten und Jazzpianisten Andreas Gundlach! Tatsächlich ging das Ganze am Sonnabend höchst erfolgreich über die Bühne, und die war immerhin keine geringere als der große Saal im Festspielhaus Hellerau, wo sonst auch mal die Staatskapelle oder das MDR-Orchester spielt. (…) Schon seit März hat das Kinderorchester Musaik geprobt, der Komponist und Jazzpianist Andreas Gundlach kam vorbei und hörte sich an, was man alles im neuen Stück ausprobieren kann. In der wahrlich auch vom Wetter her heißen Endprobenphase wurde in der Kirche in Prohlis in der letzten Woche alles zusammengesetzt: „Fioritura“ heißt das neue Werk, ein Stück über die Blüte eines Blümeleins, das mit seinem Duft die ganze Welt verwandelt, nachdem es dramatische Stunden im Krankenwagen zu überstehen hat. Für das trötende Martinshorn und das musikalische Aufblühen der Blume sorgt natürlich das Musaik-Orchester und Gundlach gelang so etwas wie ein klingendes Kinderbuch, bei dem alle mitmachen konnten, selbst die, die erst vor einem halben Jahr überhaupt mit einem Instrument angefangen hatten.

Die Musiklehrer und Musaik-Initiatoren mischten sich ins Orchester, und wenn die Noten zu kompliziert waren, gab Musiklehrerin Luise Börner zusätzlich zum Dirigenten Premil Petrovic noch einen armschwingenden Einsatz, den keiner übersehen konnte, während Deborah Oehler die Cellogruppe zum bassigen Fundament anspornte. Absichtsvolle „Störungen“ gab es von der Bläserklasse, die (welch Luxus!) mit eigenem Dirigenten für satte Sounds von sechs Querflöten, Tuba, Euphonium, Trompeten und Saxophonen sorgte. Die Sinfoniker selbst fügten harmonische Umspielungen und groovigen Background hinzu. Was da in der Hauptmelodie mit fünf Tönen ganz einfach und leicht klang, war im Gesamtklang dann richtig farbensprühend.

Gundlach selbst zog sich in der Aufführung an die Triangel zurück und konnte sich aber akustisch kaum mehr gegen die Musaik-Kinder durchsetzen, die auch mit gekonntem Luftballon-Schnirpsen manch angestrengte Neue-Musik-Auswüchse alt aussehen ließen. Dafür gab es einen Riesenapplaus des Publikums, bevor der Abend im Kulturgarten hinter dem Festspielhaus erleichtert über das Geschaffte und in jedem Fall beglückt ausklang.


Hochhaussinfonie: LR

Lausitzer Rundschau

Multimedia-Spektakel aus Film, Licht und Musik

22. Juli 2008

Das hat es so noch nie gegeben! Und es war zweifelsohne eine gewaltige Herausforderung: Die «Hochhaussinfonie» auf der Prager Straße in Dresden am späten Donnerstagabend zählt zu den besonderen Höhepunkten der Stadtfestwoche zum 800-jährigen Bestehen der Elbestadt.

Keine Bühne, kein Orchestergraben und keine engen Stuhlreihen – als Konzertort hatten sich die Veranstalter den 37 Meter hohen und mit 240 Metern längsten bewohnten Plattenbau Europas ausgesucht. Die Musiker, die Dresdner Sinfoniker, verteilten sich auf 43 beleuchtete Balkone und das britische Pop-Duo Pet Shop Boys thronte über der Leinwand, auf der Eisensteins «Panzerkreuzer Potemkin» flimmerte. Und als wäre das alles noch nicht genug, schwebte der US-amerikanische Dirigent Jonathan Stockhammer in einem Kran-Korb meterhoch über der einstigen DDR-Vorzeige-Flaniermeile und gab von dort aus den Takt für die Musiker an. Mehr als 10 000 Menschen standen davor und sahen dem ungewöhnlichen Spektakel zu.

Bevor jedoch Eisensteins Stummfilmklassiker «Panzerkreuzer Potemkin» auf der zwischen den Balkonen angebrachten Leinwand anlief, wurden Original-Sequenzen und Fotos auf die Fassade des teilweise noch bewohnten Blocks projiziert, die sich mit der Geschichte der DDR und dem Platz zwischen Dresdner Hauptbahnhof und Altmarkt auseinander setzten. Denn der Ort für das multimediale Spektakel aus Film, Licht und Musik wurde sorgfältig ausgewählt. Durch seine wechselvolle Geschichte und seine Rolle als Brennpunkt während der politischen Wende 1989 ist die Prager Straße ein wahrhaft historischer Ort, der die Wirkung von Eisensteins Film noch verstärkt.

Bilder aus Überwachungskameras und aus den Archiven Dresdner Bürger reflektierten die Geschehnisse auf eindrucksvolle Weise und zeigen: Hier ist die Geschichte nicht erloschen, sondern sehr lebendig. Nicht zuletzt durch die Menschen, die 1989 dabei waren und die auch heute noch zum Teil auf der Prager Straße wohnen. Die Musik zur «Hochhaussinfonie» schufen Neil Tennant und Chris Lowe gemeinsam mit den Dresdner Sinfonikern bereits im Jahr 2004. Sie ist eine Mischung aus den elektronischen, pop-orientierten Klängen, mit denen es den «Pet Shop Boys» gelang, sich weltweit einen guten Namen zu machen und mehr als 30 Millionen Platten zu verkaufen, sowie der Tiefe und Fülle eines klassischen, aber dennoch modernen Klangkörpers.

So entstand nach Edmund Meisel und Dmitri Schostakowitsch jetzt die dritte offizielle Vertonung des Films, die im September 2004 vor 35 000 Zuschauern auf dem Londoner Trafalgar Square uraufgeführt wurde.

Andreas Weihs


Hochhaussinfonie: Zeit

Die Zeit

Pop-Pathos: Die Hochhaussinfonie der Pet Shop Boys

21. Juli 2008

«Revolution ist Krieg.» Der erste Satz eines Lenin-Zitates flimmerte am Donnerstagabend über die riesige Leinwand in der Dresdner Innenstadt. Es war der Auftakt zur gemeinsamen Vertonung von Sergej Eisensteins Film «Panzerkreuzer Potemkin» der Pet Shop Boys und der Dresdner Sinfoniker. Die Melange aus Film und Musik wurde dabei an einem ungewöhnlichen Ort aufgeführt. Schauplatz war ein 240 Meter langer DDR-Wohnblock auf der Prager Straße. Die Veranstalter sprachen von Deutschlands längstem Wohnhaus – und der weltweit ersten «Hochhaussinfonie».

Die grundlegende Idee hatte Sinfoniker-Mitgründer Sven Helbig dabei schon im Vorfeld preisgegeben. Ein Orchester sollte entgegen der herkömmlichen Sitzanordnung einmal in der Vertikalen spielen. So kam es, dass die Sinfoniker auf 42 Balkonen links und rechts der Filmleinwand Platz nahmen. Der klare Klang, der daraufhin die Nacht erfüllte, ließ alle Zweifler schweigen. Die Streicher und das Keyboard von Pet Shop Boy Chris Lowe gingen eine Liaison ein, die jede der hoch gesteckten Erwartungen erfüllte.
Das britische Duo untermalte zahlreiche Szenen des Stummfilms aus dem Jahr 1925 mit pathetisch anmutenden Pop-Klängen. Das wiederum schien dem Film, den Fachleute zum besten aller Zeiten kürten, angemessen. Wenn Eisenstein Nahaufnahmen Gesichter der meuternden Matrosen oder der wehrlosen Bürger Odessas zeigt, spiegelt sich dort die selbe Überhöhung wider. Der Expressionismus traf in diesen Momenten die Postmoderne. Überraschenderweise ergänzten sie sich gut.

Ähnlich gut aufeinander abgestimmt waren auch Aufführungsort und Vorfilm. Rasch wechselnde Bilder zeigten Aufstieg und Fall der DDR, widmeten sich besonders 1989 auch der Bedeutung der Prager Straße für die damaligen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Staatsmacht. Im Oktober jenes Jahres wurde auf dieser Straße der Hebel umgelegt zu einer friedlichen Revolution, als sich mitten aus den Protestierenden die «Gruppe der 20» bildete, die fortan mit Politikern und Uniformierten verhandelte.

Diese Parallele führte direkt zu Eisenstein. Schließlich endet «Panzerkreuzer Potemkin» nicht in der möglichen Schlacht mit der zaristischen Flotte. Die Matrosen der Schiffe, die die Meuterer angreifen sollen, verbrüdern sich vielmehr mit ihnen. Neil Tennants Zeilen wie «This is no time for tears» oder «Heaven is possible after all» mögen manchem platt vorkommen. In diesem Kontext funktionieren sie jedoch blendend. Und bei der berühmten Szene, in der ein Kinderwagen die Odessaer Hafentreppe hinunterrollt, hinter sich die schießenden Kosaken, könnten Worte kaum treffender formuliert sein als Tennants «How come we went to war». Assoziationen ins Heute nicht ausgeschlossen. Das Publikum war jedenfalls begeistert, die rund 10 000 Gäste applaudierten lange. Kurz zuvor hatte sich der Wohnblock dank einer Lichtinstallation selbst in ein riesiges Schlachtschiff verwandelt. Und als Tennant Dresden zum 800. Stadtgeburtstag gratulierte, war aller Pathos verflogen.