Kategorie: Medienecho

Hochhaussinfonie: DNN

Dresdner Neueste Nachrichten

Es knistert

21. Juli 2008

Ok, stellen Sie sich mal vor, es ist 1988, Sie sitzen in Pantoffeln in ihrer Neubauwohnung, warten auf die Wende und lesen folgende Schlagzeile: US-Amerikaner dirigiert Dresdner Plattenbau in den Hafen von Odessa. Oder: Britisches Pop-Duo besetzt russischen Panzerkreuzer mit Dresdner Orchester. Oder: Film-Ikone Sergej Eisenstein tanzt zu freiheitlichen Club-Sounds auf der Prager Straße. Ist ja alles nicht wahr. Erst am Abend des 20. Juli 2006, als die um eine riesige Leinwand gelegenen Balkone so illuminiert werden, dass gigantische Jahreszahlen lesbar werden, angefangen bei der 46, durchlaufend zur 89, geht den Besuchern der „Hochhaussinfonie“ auf, welchem großartigen Wahnsinn sie gerade beiwohnen: einer Inszenierung der unbedingten Freiheit.

In gemeinschaftlicher Arbeit haben die Pet Shop Boys und die Dresdner Sinfoniker auf beeindruckende Weise den zum „Besten Film aller Zeiten“ gekürten Streifen „Panzerkreuzer Potemkin“ neu vertont, für den Eisenstein seinerzeit forderte, jede Generation möge ihren eigenen Soundtrack komponieren. Ein Meisterwerk, für das der ingeniöse Filmemacher ganz bewusst Mittel des Propagandafilms verwandte; als solcher verklärt wurde der „Panzerkreuzer“ wiederum Teil eines Pflichtprogramms im DDR-Lehrplan.

Heute sitzen die ehemaligen Staatsbürgerkunde-Schüler wie eh und je am Rand des Pusteblumen-Springbrunnens auf der Prager Straße, um sich am vermutlich heißesten Tag des Jahres die Füße zu kühlen, und schauen aufgeregt zum Vorfilm (Intro:Bettina Renner und Richard Krause), der ganz harmlos mit Sequenzen aus frühen DDR-Tagen beginnt, unter mächtiger, immer bedrohlicherer Soundkulisse erste Versätze aus Dresdner Überwachungskameras Herbst ’89 einstreut und schließlich mit einer stillen Szene zu unsentimental berührender Intensität aufläuft. Hier auf der Prager Straße, einem von den Dresdnern der Nachwendezeit ausdauernd stiefmütterlich behandelten, historischen Ort.

Es sind genau dererlei Verschränkungen, die diesen Abend so unglaublich spannend machen; als Übergang zum Hauptfilm präsentiert die Leinwand eine tosende, unruhige See, ähnlich der inneren Stimmung vieler auf dem Platz davor. Derweil beziehen 42 Dresdner Sinfoniker auf den umliegenden Balkonen einzeln Position und Chris Lowe und Neil Tennant, die beiden Pet Shop Boys, auf einem roten Balkon direkt über der Leinwand. Nomen est omen: Den definitiv besten Platz hat Dirigent Jonathan Stockhammer auf einer verkleideten Hebebühne vor der ersten Reihe: Auch während der Sequenzen, in denen die Sinfoniker nichts zu tun haben, sieht man dem Mann eine gewisse rhythmische Begeisterung an…

Als der Stummfilmklassiker von 1925 schließlich startet, haben auch die Emotionen im Dunstkreis des Events längst ihren ruhigen Hafen verlassen – es knistert auf dem Platz, in der Menge; nein, nicht aus den Boxen, der Sound ist exzellent, was angesichts des Schallverhaltens zwischen den Betonblöcken ganz gewiss nicht einfach zu bewerkstelligen war. Die Pet Shop Boys lassen es mit den Streichern der Sinfoniker relativ ruhig angehen, entwickeln parallel zum wachsenden Unmut der Filmmatrosen über die miese Behandlung an Bord immer heftiger treibende, auch in der Abmischung nach vorn drängende Elemente housiger Industrial-Anleihen, derber als alles, was man von den beiden Pop-Tüftlern eigentlich gewohnt ist. Die Szene der eigentlichen Meuterei wird durch die beinahe schon aggressive Soundbewölkung zum Weckruf für das Fieber der Masse auf der Leinwand, partiell sicher auch davor.

Im sich anschließenden, filmischen Chaos streichen die Sinfoniker auf eine angenehm unkonventionelle Weise quer; spätestens an dieser außergewöhnlichen Knotenstelle kann man klären, warum die Pet Shop Boys gut beraten waren, sich an die Dresdner zu wenden, der „Panzerkreuzer“ ist eben kein „Bond“. Erstaunlich auch, wie unverfroren die beiden Briten ihr unumgängliches, zum Pop gehörendes Pathos in leichtfüßig-eingängige Harmonien verpacken, als wiege es nichts, als sei es selbstverständlich. Aber so funktionierte ihre Musik schon immer: Die großen Dramen des Lebens und der Liebe auf das Format einer Brausetablette gepresst, die, einmal im Wasserglas gelandet, für süße, aber intensive Katharsis sorgt. Das durchaus auch gern etwas zackigere Zuspiel der Sinfoniker reduziert den angesichts dieses Films ohnehin schon verringerten Zuckeranteil zusätzlich, die berühmte Treppenszene in Odessa, in der die aufgewühlte Menschenmenge unter zaristischem Gewehrfeuer in ein Massaker läuft, ließe auch gar keine andere Konsequenz zu.

Allein das Stampfen wird lauter. Es ist der Rhythmus, mit dem das Leben immer mit muss. Geschichte wird gemacht. Volle Kraft voraus. Das Ziel: Unbedingte Freiheit. Die Komposition gibt selbst so beiläufigen Bildern wie dem morgendlichen Lagern der Schiffe im verschlafenen Hafen eine melancholische, unkitschige Intensität, die sich so mancher deutscher Filmemacher oder Hollywood-Regisseur wohl nicht im Traum vorstellen könnte. Allein der Song „No time for tears“, den Neil Tennant nach dem Ende des Films und vielen netten Worten seinerseits an die Dresdner und ihre Sinfoniker ein zweites Mal intoniert, tropft gehörig, da gibt es nichts herumzureden. Schön jedenfalls, dass man die beiden so auch noch einmal via Leinwand zu Gesicht bekommt, haben sie sich doch während des Films recht bescheiden im Hintergrund gehalten.

Man darf gewiss annehmen, dass es sich dabei um eine Form von Respekt handelt. Respekt vor der Geschichte und vor allem dem Mut, der sie verändert. So wird der Abend mit seinen unzähligen Beteiligten und Helfern und dem 10000-köpfigen Publikum einer großartigen Collage auch zu einem Plädoyer für einen wachen Geist, der nicht einschlafen sollte, wenn Freiheit in Schritten erreicht ist. Der in dieser Stadt und speziell auf der Prager Straße hoffentlich ein Zeichen gesetzt hat, dass auch Geschichte aus Beton Geschichte ist und zur Identität einer Stadt gehört.

Chris Lowe und Neil Tennant haben vermutlich, schon weil es sie zu faszinieren schien, noch eine Weile im Plattenbauwohnzimmer gesessen. Vielleicht ja bei Oma Ilse, mit Pantoffeln unterm MuFuTi. Doch auch für Sven Helbig, Torsten Rasch, Markus Rindt und all die anderen Initiatoren dürfte dieser Abend etwas Einmaliges gewesen sein. Die Zehntausend applaudieren noch lange.

Norbert Seidel


Ferndirigat: SäZ2

Sächsische Zeitung

Grandiose Selbstbeschenkung

8. September 2008

Wenn Michael Helmrath allein am Themse-Ufer steht und John Williams‘ Ouvertüre zu „Star Wars“ dirigiert und synchron dazu die Dresdner Sinfoniker unweit des Elbufers spielen, als stünde er leibhaftig vor ihnen, dann sieht das aus wie ein Triumph der Technik. Aber es ist auch ein stiller Sieg der Ironie, ein Festspiel des Augenzwinkerns.

Die Event-Hülle passt gut zum Geburtstagskonzert der Sinfoniker, die in den zehn Jahren ihres Bestehens oft mit Sinn und Form jongliert haben. Zwar blickt kaum ein Musiker auf die Projektion, die mithin fürs Taktieren eher unerheblich ist. Doch die virtuelle Live-Präsenz ihres in London weilenden „Dirigenten der ersten Stunde“ und die ebenfalls per Satellit übertragenen Grüße der Pet Shop Boys, mit denen die Sinfoniker vor zwei Jahren Dresdens Prager Straße elektrisierten, bringt eine Weltläufigkeit in den Kulturpalast, dass selbst der Staub gleich viel globaler riecht.

Mit diesem Konzert beschenken die Jubilare zwar auch sich selbst, doch nicht minder Freunde und Sympathisanten. Ihre Heim-Auftritte vereinen stets große Teile der hiesigen Band-, Bühnen- und Kunstszene, und auch wer kein Stammhörer zeitgenössischer Musik ist, fremdelt hier nicht, sondern ist neugierig offen und ergötzt sich am Detail – am Sonnabend die mit Beifall nicht geizende Mehrheit.

Als die Ü-Technik ausgestöpselt und abgeräumt ist, geht es ans Eingepackte. Zunächst gibt es „Excantare fruges“ von Torsten Rasch, das „Aussingen der Früchte“. Rasch, bekannt durch seine Rammstein-Orchester-Arrangements, hat hier altägyptische Rituale verarbeitet. Folgen von Terzen, Ganz- und Halbtonschritten verdichten sich zu Klangballungen, die aufgehen wie Hefeteig und schrumpfen wie Hoffnungen. Dirigent Olari Elts, in Fleisch und Blut und Frack zugegen, zelebriert mit den hellwachen Sinfonikern die Dynamik von Werden und Vergehen. Was ewigen Atem birgt, lässt sich auch in Kürze sagen. Fortan knistert es im Saal.

Es folgt mit „Noctámbulos“ die von Enrico Chapela für diesen Anlass notierte Orchester-und-Rockband-Version seiner Kammersuite „Lo nato es neta“. Der wilde Groove aus Percussion, Bläsern und Streichern ist suggestiv, zuweilen brachial. Schub und Sog wechseln unstet, selbst die Musiker scheinen von den Wellen, die sie aufwerfen, hin- und hergerissen. In den Tutti verwirbeln die Bläser die schemenhaften Strukturen derart, dass sich im Publikum diffuse Sehnsucht breitmacht nach Sanftheit, die sich nicht einlöst, oder nach Rückkehr fester Rhythmen, und da kann geholfen werden. Doch dann gellt Jens Leglers E-Gitarre, als brenne das Zappa-Zimmer eines 70er-Jahre-Museums. Löschzug & Pause.

Klangliches Glanzstück des Abends ist Erkki-Sven Tüürs Sinfonie Nr. 5 für Bigband und Orchester. Keiner muss Tüürs mathematische Codes kennen, um zu spüren, dass hier nichts willkürlich gesetzt ist. Silbrige Streicherschichtungen eröffnen weite Ebenen, die ein Karnevalszug des Bigbandblechs kreuzt, bevor der Gitarrist unter Strom seinen Merlins-Tanz hinzappelt. Auch hier ein Hauch von Ironie: Wenn endlich die ölige, bröcklige Phrasierung der E-Gitarre verstummt, klingen die Streicher wie neugeboren, zart und rein. Sag ich doch, denkt der Schöpfer. Tüürs Sinfonie fordert sinnliches, intelligentes Lichtspiel und treibt das grandiose Ensemble in Grenzbereiche. Das Orchester ist der Star, illuster sind seine Gäste.


Ferndirigat: DNN

Dresdner Neueste Nachrichten

Der Satellit macht’s möglich

08. September 2008

Jubiläumskonzert der Dresdner Sinfoniker mit dem ersten Ferndirigat der Welt

Ob das Schule macht? Das Orchester an einem Ort, der Dirigent an einem anderen? Zumindest geschah das am Sonnabend im Kulturpalast beim Konzert aus Anlass des zehnjährigen Bestehens der Dresdner Sinfoniker. Da stand der Dirigent Michael Helmrath, der dem Orchester seit Jahren verbunden ist, im Zentrum Londons und dirigierte den Drehorgelspieler Moshe Silbermann, der in Helmraths unmittelbaren Nähe sein Instrument drehte, und das Orchester auf der Bühne in Dresden. Via Satellit wurde das Bild seiner unübersehbaren Gestalt auf Monitore und eine semitransparente Wand übertragen. Hören konnte Helmrath nur die Drehorgel, während das Orchester für ihn ein reiner Glaubensakt blieb – nicht hören und doch glauben. Nun mag ein solches Vorgehen bei der Ouvertüre zu „Star Wars“ von John Williams noch möglich sein, weil die für die Ausführenden von der Qualität der Sinfoniker keine übermäßigen Schwierigkeiten bedeutet. Bei komplizierteren Werken ist davon abzuraten, zumal das Ganze nicht mehr als ein netter Spaß ist, der kaum künstlerischen Eigenwert besitzt.

Die anderen Werke des Jubiläumskonzerts bedurften eines Dirigenten am Ort des Orchesters. Da war der Este Olari Elts die richtige Wahl, denn er leitete die Sinfoniker mit außergewöhnlich genauer Schlagtechnik und oft mit vollem Körpereinsatz, was der Präzision der Ausführung zugute kam. Am Anfang stand die Uraufführung von Torsten Raschs „excantare fruges“, eines Auftragswerks der Sinfoniker und des Sinfonieorchesters Osnabrück. Spätestens seit „Mein Herz brennt“ weiß man um Raschs Fähigkeiten im Umgang mit großen Orchestern. Auch diesmal war seine Instrumentierung von hoher Qualität. Dagegen stand seine Arbeit mit thematischem Material etwas im Hintergrund und die Permutationen und Variationen, von denen er in seiner Werkerläuterung spricht, waren nicht mit gleicher Deutlichkeit erkennbar. Es scheint ein grundsätzliches Problem zu sein, dass man die Inhalte verbaler Äußerungen von Komponisten in der Musik nur in Ausnahmefällen wiederfindet.

Der stärkste Eindruck des Abends ging von „Noctámbulos“ aus, das der Mexikaner Enrico Chapela im Auftrag der Sinfoniker für Rocktrio und Orchester geschrieben hat und in diesem Konzert ebenfalls uraufgeführt wurde. Das tragende Element dieses Werks sind die kontrastierenden Rhythmen, die sich bis zur Polyrhythmik steigern. Dabei sind große Eruptionen und eine spannende Orchestrierung, drangvolle Ostinati und unwiderstehlicher Drive ergänzende Parameter. Chapela beweist hier seine Fähigkeit, schwebende Melodik zu komponieren und einzelnen Soloinstrumenten – neben dem Trio hauptsächlich Blasinstrumenten – zuzuweisen. Die Komposition ist voller Raffinement, die aber durch die Vitalität der Musik als völlig natürlich und oft auch als spontan empfunden wird. Die astrologischen Spekulationen Chapelas, die er in seiner Werkeinführung benennt, muss man als Hörer zum Glück nicht nachvollziehen, obwohl sie vielleicht für Eingeweihte genau das sind, wodurch das Werke erst seine letzte Klarheit bekommt.

Durch die Aufführung der Sinfonie Nr. 5 für Bigband, E-Gitarre und Orchester von Erkki-Sven Tüür konnten wir einen interessanten estnischen Komponisten kennen lernen. Über estnische Musik wissen wir wohl nur das, was uns durch die Werke Arvo Pärts bekannt geworden ist. Das ist einigermaßen ungerecht, weil Pärt sicher eine Ausnahmeposition besetzt und ein Blick in die Werkliste Tüürs zeigt, dass es eben noch viele andere Kompositionen aus Estland gibt. Über Tüür ist zu lesen: er „befasst sich mit verschiedenen Polaritäten, etwa mit Minimal Music oder serieller Musik, und kombiniert beide in einer Komposition – heraus kommt kein postmodernes Crossover, sondern eine durchstrukturierte Partitur.“ Seine Sinfonie legt davon ein klares Zeugnis ab, konnte aber trotz souveräner Bewältigung durch die Ausführenden – neben den Sinfonikern Jens Legler an der E-Gitarre und das Berlin Jazz Orchestra – nur mit Blick auf die intelligente Schreibweise überzeugen. Die Sinfonie in ihrer Gesamtanlage und ihrem strukturellen Grundkonzept ist zu sehr der Schreibweise der siebziger und achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts verpflichtet, um tatsächlich Neues zu vermitteln.

Ein Ärgernis ist zu kritisieren. Die Deutsche Grammophon, bei der eine CD mit den Dresdner Sinfonikern erschienen ist, hat auf den gleichen Abend die Vorstellung einer neuen CD mit René Pape gelegt, so dass sich zwei Veranstaltungen gegenseitig Konkurrenz geliefert haben. Das ist zwar ziemlich schwachsinnig, kann uns aber die Freude darüber nicht verderben, dass sich die Dresdner Sinfoniker in den zehn Jahren ihres Bestehens einen Ruf erarbeitet haben, den wohl nicht einmal die Initiatoren bei der Gründung des Orchesters für möglich gehalten haben. Das „Wunder von Dresden“ ist geschehen und hat aus den Wurzeln eine prachtvolle Krone wachsen lassen. Gehen wir also mit den Sinfonikern getrost in das zweite Jahrzehnt ihrer Existenz, das mit dem Jubiläumskonzert schon unüberhörbar begonnen hat.

Peter Zacher


Ferndirigat: SäZ1

Sächsische Zeitung

Gern mal ein Spektakel

30. Juli 2008

Eine Jazzband gründen – das war die Ur-Idee. Oder besser gleich ein Orchester? Solche leicht verrückten Scherze entstehen unter Leuten wie Markus Rindt (gelernter Hornist), Tom Götze (Bassist) und Sven Helbig (Schlagzeuger). Nur – was das Dresdner Trio eines Sommerabends 1996 in der Felsenbühne Rathen ausheckte, wurde bald richtig Ernst. Denn die Klänge in ihren Köpfen – das war bald klar – ließen sich mit wenigen Leuten nicht machen.

Es waren nicht nur Dresdner Kollegen, die bald mit ins Boot stiegen, um sich als „Dresdner Sinfoniker“ mehrmals pro Jahr mit Herz und Verstand und ohne Gage zeitgenössischer Musik zu widmen. Auch Berliner Philharmoniker, Musiker des Tonhalleorchesters Zürich und einiger weiterer Klangkörper gehörten bald zum Kreis. Im Juli 1998, vor zehn Jahren, gab der Klangkörper unter Jonathan Nott sein erstes Sinfoniekonzert. 2000 Begeisterte erlebten im Dresdner Kulturpalast nicht Beethoven oder Brahms, sondern eine Uraufführung und eine europäische Erstaufführung. Überregional sah man ein Wunder an der Elbe – verständlich in einer vom Orchestersterben gekennzeichneten Zeit.

Seitdem zeigen sich die Dresdner Sinfoniker flexibel, farbenfroh und facettenreich wie eine Band. Und denkbar breit interessiert. Musik von John Adams bis Frank Zappa, moderne Klänge aus der Mitte des Abendlandes, aus Mittelasien und dem Reich der Mitte – stets ist das Orchester auf der Suche nach dem Ungewöhnlichen oder Ungehörten. Enthusiasmus und langer Atem machen das kaum Mögliche möglich, etwa die manuelle Rückholaktion von John McLaughlins „Apocalypse“ von Tonträger auf Notenpapier. Ohnehin liegt hoher Aufwand in der Natur der Sinfoniker-Projekte. Ein gewisses Kokettieren mit dem Spektakel ist dabei legitim, bringt es doch oft erst die gebührende Aufmerksamkeit. Allerdings waren die Begegnungen mit Rammstein („Mein Herz brennt“, 2003) und den Pet Shop Boys („Panzerkreuzer Potemkin“, 2004 und 2006) auch Grenzerfahrungen. Beide Male hieß es, sich dem Großen klar unterzuordnen.

Das Horn, das Rindt einst im Landesbühnen-Orchester blies, liegt heute im Kasten. Seit der Geburt der Dresdner Sinfoniker hat er das Musikmachen weitgehend dem Ermöglichen von Musik geopfert. Für das Orchester leben heißt für ihn heute telefonieren und organisieren, animieren und argumentieren. Dies umso mehr, seit durch den Weggang Sven Helbigs vor zwei Jahren die Fäden allein bei ihm zusammenlaufen.

Nach einiger Stille zuletzt verspricht das Jubiläumskonzert am 6.September unter Olari Elts ein Ereignis in bekannter Sinfoniker-Manier zu werden: eine Collage aus Orchester, Rocktrio und Bigband. Werke von Torsten Rasch und Enrico Chapela erblicken das Licht der Welt. Der Clou wartet zu Beginn: Dirigent Michael Helmrath, den Sinfonikern seit Anbeginn treu, kann nicht wirklich kommen, er erscheint aber immerhin virtuell im Dresdner Kulturpalast. Als etwas verrückter Straßenmusiker wird er von London aus die „Star-Wars“-Ouvertüre leiten.


Hasretim: Süddeutsche

Süddeutsche Zeitung

Heimat, wohin Du gehst

14. Oktober 2010

… Das deutsch-türkische Musikprojekt Hasretim in Hellerau (…) vermittelte an diesem Abend vor allem eines: heimatliche Wärme, wohin man sah und wohin man hörte. Egal, welches Instrument sich gerade in den Vordergrund schob, ob Saz, Kemence, Davul, Duduk, Ud oder Zurna – alles klang so wunderbar bauchig und erdig, als wär´s von einem selber. Es war, wenn man die ethnologische Neugier einmal ausblendete, als könne überall Heimat sein, wo solche Musik ist… Marc Sinan wollte das so, er suchte eine Symbiose von Anatolien und Deutschland, von Klassik und Volksmusik, von historischen Klängen und Zukunftsmusik. Was er vor allem erreichte, war die Transformation der Volksmusik in den sinfonischen Orchestergraben, die Übernahme von Trommeln und Hirtenflöten, Schalmein und Langhalslaute in Verbindung mit der westlichen Gitarre…Manchmal klang es aber auch wie Jan Garbarek, allerdings: strenger, strukturierter, erdiger.  …

Helmut Mauró


Hasretim: DNN

Dresdner Neueste Nachrichten

Bewegender Brückenschlag

11. Oktober 2010

Es ist schon eher eine Seltenheit, dass sich die Dresdner Sinfoniker eine fertige Partitur aufs Dirigentenpult legen. Neben dem musikalischen Ergebnis zählt immer der Innenblick in musikalische Kulturen, die wir viel zu selten zu Gehör bekommen. Die Sinfonikerkonzerte sind mit lange gehegten und mit Nachdruck verfolgten Ideen verbunden, für die Initiator und Intendant Markus Rindt einsteht. So entstand in enger Zusammenarbeit mit dem Europäischen Zentrum der Künste Hellerau das Projekt „Hasretim – eine anatolische Reise“, das bei den TonLagen im Festspielhaus Hellerau uraufgeführt wurde.

Wie zeitaktuell das Werk war, lässt sich anhand der Terminlage verdeutlichen: Tags zuvor spielte die Nationalmannschaft in Berlin gegen die Türkei, zudem war der türkische Ministerpräsident Erdogan bei der Kanzlerin zu Gast. Eine Integrationsdebatte wird auf politischer Ebene schon lange im Land geführt. Dass dazu zwingend auch die inspirative, auch experimentell geführte Auseinandersetzung zwischen den Kulturen gehört, ist die wichtige Botschaft des Konzertes. Über einen längeren Zeitraum fuhr Rindt mit dem deutsch-türkischen Komponisten und Musiker Marc Sinan und einem Kamerateam an die Schwarzmeerküste und in den inneren Nordosten der Türkei und zeichnete Gesänge und Tänze der Einheimischen auf. Es zählte nicht unbedingt der musikethnologische Anspruch, dafür ist die musikalische Landkarte zu vielschichtig. Was entstand, ist eine Art tönendes Skizzenbuch der Reise, das in Konzertform mit Video und großem Kammerensemble wieder neu zusammengesetzt wurde. Dabei wurde die Reiseroute zwischen Ordu, Erzurum und Kars beibehalten – seien wir ehrlich, kennt einer der bekennenden Türkeiurlauber diese auch historisch bedeutsamen Orte überhaupt? Geschweige denn die Musik, die über die Generationen hinweg weitergetragen wurde und die hoffentlich als kulturelles Erbe auch erhalten wird. „Hasretim“ leistete dazu einen wertvollen Beitrag. Marc Sinan schuf eine Partitur, die zwischen den Originalaufnahmen und der Live-Musik des Ensembles changierte, sich aber nur selten wesentlich vom Charakter der Volksmusik entfernte, lediglich ein jazziges Klaviersolo wirkte etwas eigenartig im Zusammenhang. Im Gesamteindruck hätte eine bessere Verstärkung einiger Instrumente (Flöte, Kaval, Streicher) die Strukturen noch transparenter gemacht.

Sinans Musik zeichnet behutsam nach und hat damit die Wirkung eines Spiegels oder Kommentars, zudem funktionierte die „Integrationspolitik“ im Orchester einwandfrei: Türkische und armenische Gastmusiker saßen mit im Ensemble; die Kollegen der Sinfoniker indes hatten die respektable Aufgabe, sich fernab einer wohltemperierten Stimmung auf Skalen und Strophenlieder einzulassen, für die spezielle Spielarten gefunden werden mussten. Was nämlich beim Lieblingstürken um die Ecke basslastig aus dem Lautsprecher dröhnt, ist maximal noch ein skelettartiger Rest der reichen musikalischen Kultur Anatoliens. Das wird allein schon angesichts der Instrumente klar, die sich in Hellerau auf der Bühne einfanden: Saz, Ud, Kavel und Kemence, dazu die beiden hinreißenden Duduk/Zurma-Spieler, die schon zur Terterjan-Sinfonie begeistert hatten.

Der italienische Dirigent Andrea Molino hatte wesentlichen Beitrag zur Zusammenstellung des Werkes geleistet und koordinierte Bild und Ton in der Aufführung sicher zusammen. Das Videozuspiel (Filip Zorzor, Lonni Wong) wirkte manchmal zu verspielt, dadurch wurde die intensive Wirkung des Authentischen leicht verwischt. Das tat aber der hervorragenden Aufführung keinen Abbruch; dankbar nahm das Hellerauer Publikum diesen kulturellen Brückenschlag entgegen und feierte anschließend ausgelassen mit den Sinfonikern und den Gastmusikern, die sich für eine Zugabe nicht lange bitten ließen.

Alexander Keuk


Hasretim: FAZ

Frankfurter Allgemeine Zeitung

Auf nach Anatolien! Zukunftsmusiken in Stuttgart und Hellerau

22. Oktober 2010

Die Neue Musik ist, schon seit längerem, des Elfenbeinturms überdrüssig. Vermittlung heißt das Zauberwort, mit dem vor allem das junge Publikum angelockt werden soll. Das Rezept scheint zu wirken. In Donaueschingen sind seit Jahren schon die experimentellen Konzerte überlaufen, in Witten ebenso und auch bei Stuttgarts Éclat Festival im Frühjahr. In Stuttgart nennt sich ein neues Festival einfach „Zukunftsmusik“. Innovativ will man sein, nicht nur die Hauptstadt mit neuen Werken, Aktionen, Ideen erobern, sondern die ganze „KulturRegion“. Das Publikum ist zum Mitspielen aufgefordert, und in Ludwigsburg, Ditzingen, Leonberg, Backnang, Waiblingen, Ostfildern, Rechberghausen und noch anderen Orten nimmt es an der Darbietungen, die sich Komponisten, Musiker, Künstler aller Disziplinen ausgedacht haben, lebhaft interessiert und von Fall zu Fall auch aktiv teil.

Für das Abschlusskonzert des „Zukunftfestivals“ begab man sich doch wieder ins feste Quartier, ins Theaterhaus auf dem Pragsattel. Drei Produktionen standen auf dem Programm: eine Musik- und Videoperformance von Daniel Kötter und Hannes Seidl zum Thema „Kunstarbeit“ und „Freizeitgestaltung“. Wie steht es um die Balance zwischen Arbeit, Freizeit und Kunst, so die Frage. Für die Abbildung standen fünf Sänger der Neuen Vocalsolisten. Die Kamera begleitet sie bei alltäglichen Verrichtungen und diversen Freizeitaktivitäten. Auf der Live-Bühne treten dann die Akteure leibhaftig mit ihren „Abbildern“ in Kontakt, woraus sich oft witzige Brechungen und Situationen ergeben. Komödiantische Heiterkeit und unverkrampfte gesellschaftskritische Implikationen stehen mit schöner Selbstverständlichkeit nebeneinander. Und die von den Vocalsolisten live gesungene Musik, mit einigen eingearbeiteten Rameau-Arien, wirkt wie eine zusätzliche Brechung des „Themas“, als ein belebendes Spannungsmoment.

Während die Performancekünstlerin Jennifer Walshe mit ihrer „Zukunftsfiktion von Stuttgart 2091“ sicher von aktuellen Vorgängen in der Stadt animiert worden sein dürfte, begibt sich der Komponist und Chordirigent Rupert Huber mit seiner Chorkomposition „Al Ganyy“ in tiefere Sinnsuche für seine Musik. Zugrunde liegt die 112. Sure des Korans, in der es um Gott und Reinheit geht. Huber reflektiert die Thematik musikalisch, erzeugt mittels eines „Klang“ grundierenden größeren Chors, dessen Mitglieder zugleich Klangschalen anschlagen, und der darüber gelegten Stimmen des SWR Vokalensembles eine hochgespannte doppelter Klangschicht, in der auch außereuropäische Elemente verarbeitet werden.

Neue Zukunftsaussichten will auch das Festival in Hellerau bei Dresden bieten. Die früheren „Tage der zeitgenössischen Musik“, in strenger Observanz von Udo Zimmermann konzipiert, öffnen sich unter neuer Leitung vielen Erscheinungen der gegenwärtigen Musik. Zu den „Tonlagen“, wie sich das Hellerau-Festival jetzt nennt, gehörte diesmal auch der Ausflug in die östliche Türkei. „Hasretim – eine anatolische Reise“ hieß ein Abend mit Musikern der Dresdner Sinfoniker sowie türkischen und armenischen Gästen. Video-Aufnahmen von karstigen Bergen, fernen Inseln und leise kräuselndem Meer dienten als Folie für die musikalischen Beiträge. Klänge und Lieder, die von Gefühlen und Leiden, vom Lieben und Trauern der Menschen in diesen Ländern erzählen, ließen vorübergehend Wulff-Reden und Sarrazin-Debatten vergessen. Alles Harmonie im Großen Hellerauer Festspielhaus. Türken, Armenier, Deutsche, ob Künstler oder Zuhörer, waren auf Zeit mit- und ineinander integriert. Ein Konzert als schöne Vision.


Hasretim: Abendblatt

Hamburger Abendblatt

Musikexpedition nach Anatolien

01. August 2011

Das Schleswig-Holstein Musik Festival zeigte auf Kampnagel „Hasretim“ – eine wunderbare Reise zu Menschen und ihren Instrumenten

Wie Reisefieber klingt, zeigte die musikalisch-filmische Collage „Hasretim – Eine anatolische Reise“, die am Sonnabend im Rahmen des Schleswig-Holstein Musik Festivals auf Kampnagel aufgeführt wurde. Mit einem Bild des majestätischen Bosporus begann diese Musikexpedition entlang der anatolischen Schwarzmeerküste. Dazu zupften der Gitarrist und Komponist Mark Sinan und ein Bassist einige melancholische Klänge. Erst nach und nach strömten mehr Musiker aufs Podium und woben ihre Stimmen ein in eine immer erregendere Klangfläche, die man wahlweise mit Reisefieber oder den Bildern der pulsierenden Megapolis Istanbul assoziieren konnte.

Sinan und sein Koautor Markus Rindt sind auf ihrem Weg durch Nordostanatolien wunderbaren Menschen und Instrumenten begegnet: einem Schafhirten mit verwittertem Gesicht und rauen Arbeiterhänden, der die Geheimnisse der Zirkularatmung perfekt beherrschte und auf einer archaischen Flöte einen endlosen Strom dionysischer Töne produzierte. Oder Dudelsäcken, die so rau und erdig klangen, dass man meinte, die Musik tasten und riechen zu können. Zusammen mit dem Arrangeur Andrea Molino hat Sinan zu diesen Aufnahmen anatolischer Volksmusiker einen Soundtrack hinzukomponiert, der die Ursprünglichkeit und Vitalität von deren Musik perfekt auf die Möglichkeiten eines modernen, um einige Volksmusikinstrumente erweiterten Orchesters überträgt.

Die Dresdner Sinfoniker unter der Leitung von Jonathan Stockhammer erwiesen sich bei dessen Umsetzung als extrem wandlungsfähiges und virtuoses Solistenensemble. So gut war dieser Soundtrack, dass man den Komponisten wohl verzeihen muss, dass sie sich ein wenig zu sehr in den Vordergrund drängten. Gerne hätte man den Menschen, die in kleine Schnipsel geschnitten im MTV-Tempo über fünf Leinwände flimmerten, intensiver zugehört. Wem Bilder und Soundtrack im ersten Teil zu dominant gewesen sein sollten, der wurde aber in den letzten 20 Minuten versöhnt von dem elegischen Duo zwei türkischer Flötisten und einem kollektiven Abschiedsgesang, der zur majestätischen Ruhe des Anfangs zurückkehrte.


Hasretim: NMZ

Neue Musikzeitung

Sonderpreis der Deutschen UNESCO Kommission für Marc Sinan

13. Juli 2011

Mit einem Sonderpreis im Rahmen des YEAH! Young EARopean Award ehrt die Deutsche UNESCO-Kommission den türkisch-armenischen Musiker Marc Sinan und die Dresdner Sinfoniker für die Konzertinstallation „Hasretim – eine anatolische Reise“. Live zu erleben ist das Projekt am 30. und 31. Juli beim Schleswig-Holstein Musik Festival in Hamburg und Kiel.

Angetrieben von einer großen Sehnsucht („Hasret“) nach seinen kulturellen Wurzeln machte sich der Gitarrist Marc Sinan, Sohn einer türkisch-armenischen Mutter und eines deutschen Vaters, gemeinsam mit Markus Rindt, Intendant der Dresdner Sinfoniker, in den Nordosten der Türkei auf um sich von den Einheimischen ihre Gesänge und Tänze zeigen zu lassen. Sie sammelten musikalische Dokumente einer anderen Gegenwart: Archaische Melodien erzählen von Gefühlen und Leiden, vom Lieben und Trauern der Menschen in der weiten, ungestümen Landschaft an der Grenze Armeniens.

„Wir finden Musiker, heben Schätze – jeden Tag. Ohne Ausnahme erleben wir besondere und berührende Begegnungen“, berichtete Marc Sinan von seiner kulturellen Spurensuche. Die Videodokumente der Volksmusiker hat er mit zeitgenössischer Musik von ungemeiner Kraft verwoben – das Resultat der kostbaren persönlichen Begegnungen mit den Menschen und Musikern Anatoliens. Mit eindrücklicher Kraft bewegt sich die Konzertinstallation „Hasretim – Eine anatolische Reise“ zwischen den originalen Film- und Tonaufnahmen, die als Videoprojektion zu sehen sind, und der Live-Musik des Ensembles, das aus dem Solistenensemble der Dresdner Sinfoniker sowie türkischen und armenischen Musikern besteht. Der italienische Komponist und Dirigent Andrea Molino dirigiert das multikulturelle Orchester. Das Ergebnis von „Hasretim – eine anatolische Reise“ ist eine Symbiose von Anatolien und Deutschland, von Klassik und Volksmusik, von historischen Klängen und Zukunftsmusik. Neben Kontrabass, Fagott und Cello erklingen die Flöte Kaval, die Fiedel Kemençe, die Lauten Ud und Saz, die Trommel Darbuka, die Flöte Duduk und das Oboeninstrument Zurna.

Eine inspirierende, experimentell geführte Auseinandersetzung zwischen den Kulturen – genau das ist die Botschaft dieser einzigartigen Konzertcollage, die nicht nur die Wettbewerbsjury des 1. YEAH! Young EARopean Award überzeugte. Die Deutsche UNESCO-Kommission zeichnet „Hasretim“ mit einem Sonderpreis aus, der auf den besonderen interkulturellen Horizont des Projektes abhebt. Die Auszeichnung für „Hasretim“ wird bei der Verleihung des YEAH! Award am 19. November 2011 im Schloss Osnabrück durch Christine M. Merkel, Leiterin des Fachbereichs Kultur der Deutschen UNESCO-Kommission, überreicht.

In diesem Sommer ist „Hasretim – eine anatolische Reise“ live beim Schleswig-Holstein Musikfestival zu erleben: Am 30. Juli in Hamburg (Kampnagel) und am 31. Juli in Kiel (Schloss).


Hasretim: Welt

Die Welt

Immer nur die üblichen Spitzentöneklöppler

8. April 2013

Altbekanntes Modernes beim Berliner Festival Märzmusik: Wo bleibt der echte Dialog mit dem Mittelmeerraum?

Wagner, Bruckner und Debussy, so hieß die avantgardistische Elite des späten 19. Jahrhunderts. Für uns sind sie Klassiker. Das kann den Komponisten, die bei Märzmusik antreten, dem Berliner „Festival für aktuelle Musik“, nicht passieren – was heute aktuell ist, ist morgen belanglos. Die zeitgenössische E-Musik steckt wieder mal in der Krise. Nicht etwa, weil es keine großen Komponistenpersönlichkeiten mehr gäbe. Sondern weil sie nicht gespielt werden. Auch in ihrem zwölften Jahr fördert Märzmusik kaum überlebensfähige Werke ans Licht. Trotzdem zeigen sich die Veranstalter zufrieden, 32 Aufführungen mit insgesamt 9000 Besuchern sehen sie als hinlänglichen Beweis, dass hier Relevantes geschehen ist.

Ist es wirklich relevant, weiterhin die Nischenkultur der Neuen Musik zu bedienen? Wie lange eigentlich wollen unsere Festivals moderner Musik die wichtigsten Komponisten moderner Musik noch marginalisieren? Es wäre doch so leicht gewesen, zwei der diesjährigen Kernthemen, nämlich Schlagwerkmusik und türkisch-arabische Komponisten, auf beeindruckende Weise personell zu verbinden. Doch stand schon vor dem Anpfiff fest, dass der bedeutendste Komponist der türkischen Moderne, der 1991 verstorbene Ahmed Adnan Saygun, bei Märzmusik kein Forum erhalten würde. Obwohl gerade er höchst originelle Lösungen gefunden hat, was die Durchdringung klein- und großformatiger Werke mit perkussiven Elementen betrifft. Statt seiner gab es lärmende, vierzig Jahre alte Orchesterstücke von Lachenmann und Ferneyhough, das übliche Spitzentönegeklöppel von Furrer, Mundry und Sciarrino und jede Menge elektronisches Gefiepe. Fesselnde, dicht gewebte Texturen wie Wolfgang Mitterers „rasch“ für String drums waren in der Minderheit.

Die Komponisten aus der Türkei, der Levante und dem Maghreb steuerten immer dann Gehaltvolles bei, wenn sie sich um Hybridmodelle bemühten, also um die Verschmelzung orientalisch-traditioneller und westlich-moderner Stilmerkmale. Im Rekurs auf regionale, instrumentale Eigenarten liegt nach wie vor ein gewaltiges Entwicklungspotenzial, das zeigten Onur Türkmen, Hamza el Din und Samir Odeh-Tamimi. Hasan Uçarsu, unter den lebenden Komponisten der Türkei wohl der wichtigste, war mit dem noch frischen „El Emeği“ vertreten – hier verweigert einer das Esperanto der Epigonen und sucht radikal nach persönlichem Ausdruck. Für sein neues Ensemblestück und damit für seine gesamte Ästhetik reklamiert er „eine kritische Position gegenüber den stereotypen Fließbandprodukten des Industriegewerbes.“ Mit dem Sprengstoff, der in diesem Satz steckt, ließe sich ein Großteil des gesamten Festivals versenken. Insofern war es ein kleines Wunder, vielleicht aber auch nur ein programmatischer Ausrutscher, dass ausgerechnet der Saygun- Schüler Uçarsu bei Märzmusik zehn Minuten für sich beanspruchen durfte.

Vollends ins Wunderbare führte Marc Sinans vor drei Jahren erstmals unternommene anatolische Klang- und Bilderreise „Hasretim“. Gemeinsam mit den Dresdner Sinfonikern hat der türkisch-armenisch-deutsche Gitarrist Sinan ein geradezu fabelhaftes Werk geschaffen, das die Folklore seiner Teil-Heimat beschwört. Auch die Präsentation von „Hasretim“ verriet einen ironischen, subversiven Zug. Denn die Demut anatolischer Volksmusik, gepaart mit rhythmischen und harmonischen Finessen, entlarvte gnadenlos die Leere jener konformen Massenartikel, die noch immer den Markt beherrschen. „Hasretim“ war bei Märzmusik das einzige abendfüllende Werk, das die drei thematischen Linien miteinander zu verbinden wusste. Steve Reichs berühmtes Video-Oratorium „The Cave“ erfüllt diese Bedingung nicht. Das mit der Videokünstlerin Beryl Korot entwickelte und 1993 in Wien uraufgeführte Zwei-Stunden-Epos passt zwar in die Kategorie Minidrama/Monodrama/Melodrama, bietet auch reichlich perkussive Strukturen, enthält aber nicht die geringste Spur orientalischer Musik. Der Nahe Osten ist hier nur thematisch präsent, nämlich durch die Geschichte Abrahams und seiner zwei Frauen und Söhne. Dafür wurden Israelis, Araber und Amerikaner nach der biblischen Stammfamilie befragt, ihre Antworten übersetze Reich dann in Musik. Da alle Interviewpartner englisch sprachen, liefert auch die englische Sprachmelodie das Grundmuster für die melodischen und rhythmischen Erfindungen. Was ungefähr so authentisch ist wie Verdis „Don Carlo“ auf Italienisch oder Französisch. Die musikhistorische Bedeutung von „The Cave“ mindert es freilich nicht. Wer diese Anti-Oper vor zwanzig Jahren gehört hat, erinnert sich noch gut des Schocks, der einen gleich anfangs ereilt, wenn die Sätze der Redner in Schriftform auf die Leinwand gehämmert und von Instrumentalisten und Sängern im Martellato-Ton wiederholt werden.

Die Geburt einer neuen Kunstgattung, so empfand man das damals. Auch das durch unterschiedliche Perspektiven gebrochene Sujet, Abraham als dreifacher Religionsgründer, Ismael und Isaak als Stammväter der Araber beziehungsweise Juden, das alles verschafft „The Cave“ Aufmerksamkeit und vielleicht sogar Unsterblichkeit. Rein kompositorisch stecken in den 120 Minuten allerdings viel Leerlauf und Monotonie, Reich kann keine musikalischen Höhepunkte schaffen, was anderen Minimalisten wie Philip Glass oder Michael Nyman durchaus gelungen ist.

Resümee: Die zeitgenössische Musik ist stärker und reicher, als uns das Festival Märzmusik seit Jahren glauben machen will. Sie kann so neu und gewaltig sein wie Wagner, so tiefsinnig wie Bruckner, so elegant wie Debussy. Und nicht zuletzt für das breite Publikum so faszinierend wie Wiener Klassik und Pop. Wir leben nicht mehr im Jahre 1965! Wer Gegenwartsmusik vorwiegend im defizitären Modus des Experiments und der Installation zur Schau stellt, erweist ihr keinen guten Dienst.