Es knistert
21. Juli 2008
Ok, stellen Sie sich mal vor, es ist 1988, Sie sitzen in Pantoffeln in ihrer Neubauwohnung, warten auf die Wende und lesen folgende Schlagzeile: US-Amerikaner dirigiert Dresdner Plattenbau in den Hafen von Odessa. Oder: Britisches Pop-Duo besetzt russischen Panzerkreuzer mit Dresdner Orchester. Oder: Film-Ikone Sergej Eisenstein tanzt zu freiheitlichen Club-Sounds auf der Prager Straße. Ist ja alles nicht wahr. Erst am Abend des 20. Juli 2006, als die um eine riesige Leinwand gelegenen Balkone so illuminiert werden, dass gigantische Jahreszahlen lesbar werden, angefangen bei der 46, durchlaufend zur 89, geht den Besuchern der „Hochhaussinfonie“ auf, welchem großartigen Wahnsinn sie gerade beiwohnen: einer Inszenierung der unbedingten Freiheit.
In gemeinschaftlicher Arbeit haben die Pet Shop Boys und die Dresdner Sinfoniker auf beeindruckende Weise den zum „Besten Film aller Zeiten“ gekürten Streifen „Panzerkreuzer Potemkin“ neu vertont, für den Eisenstein seinerzeit forderte, jede Generation möge ihren eigenen Soundtrack komponieren. Ein Meisterwerk, für das der ingeniöse Filmemacher ganz bewusst Mittel des Propagandafilms verwandte; als solcher verklärt wurde der „Panzerkreuzer“ wiederum Teil eines Pflichtprogramms im DDR-Lehrplan.
Heute sitzen die ehemaligen Staatsbürgerkunde-Schüler wie eh und je am Rand des Pusteblumen-Springbrunnens auf der Prager Straße, um sich am vermutlich heißesten Tag des Jahres die Füße zu kühlen, und schauen aufgeregt zum Vorfilm (Intro:Bettina Renner und Richard Krause), der ganz harmlos mit Sequenzen aus frühen DDR-Tagen beginnt, unter mächtiger, immer bedrohlicherer Soundkulisse erste Versätze aus Dresdner Überwachungskameras Herbst ’89 einstreut und schließlich mit einer stillen Szene zu unsentimental berührender Intensität aufläuft. Hier auf der Prager Straße, einem von den Dresdnern der Nachwendezeit ausdauernd stiefmütterlich behandelten, historischen Ort.
Es sind genau dererlei Verschränkungen, die diesen Abend so unglaublich spannend machen; als Übergang zum Hauptfilm präsentiert die Leinwand eine tosende, unruhige See, ähnlich der inneren Stimmung vieler auf dem Platz davor. Derweil beziehen 42 Dresdner Sinfoniker auf den umliegenden Balkonen einzeln Position und Chris Lowe und Neil Tennant, die beiden Pet Shop Boys, auf einem roten Balkon direkt über der Leinwand. Nomen est omen: Den definitiv besten Platz hat Dirigent Jonathan Stockhammer auf einer verkleideten Hebebühne vor der ersten Reihe: Auch während der Sequenzen, in denen die Sinfoniker nichts zu tun haben, sieht man dem Mann eine gewisse rhythmische Begeisterung an…
Als der Stummfilmklassiker von 1925 schließlich startet, haben auch die Emotionen im Dunstkreis des Events längst ihren ruhigen Hafen verlassen – es knistert auf dem Platz, in der Menge; nein, nicht aus den Boxen, der Sound ist exzellent, was angesichts des Schallverhaltens zwischen den Betonblöcken ganz gewiss nicht einfach zu bewerkstelligen war. Die Pet Shop Boys lassen es mit den Streichern der Sinfoniker relativ ruhig angehen, entwickeln parallel zum wachsenden Unmut der Filmmatrosen über die miese Behandlung an Bord immer heftiger treibende, auch in der Abmischung nach vorn drängende Elemente housiger Industrial-Anleihen, derber als alles, was man von den beiden Pop-Tüftlern eigentlich gewohnt ist. Die Szene der eigentlichen Meuterei wird durch die beinahe schon aggressive Soundbewölkung zum Weckruf für das Fieber der Masse auf der Leinwand, partiell sicher auch davor.
Im sich anschließenden, filmischen Chaos streichen die Sinfoniker auf eine angenehm unkonventionelle Weise quer; spätestens an dieser außergewöhnlichen Knotenstelle kann man klären, warum die Pet Shop Boys gut beraten waren, sich an die Dresdner zu wenden, der „Panzerkreuzer“ ist eben kein „Bond“. Erstaunlich auch, wie unverfroren die beiden Briten ihr unumgängliches, zum Pop gehörendes Pathos in leichtfüßig-eingängige Harmonien verpacken, als wiege es nichts, als sei es selbstverständlich. Aber so funktionierte ihre Musik schon immer: Die großen Dramen des Lebens und der Liebe auf das Format einer Brausetablette gepresst, die, einmal im Wasserglas gelandet, für süße, aber intensive Katharsis sorgt. Das durchaus auch gern etwas zackigere Zuspiel der Sinfoniker reduziert den angesichts dieses Films ohnehin schon verringerten Zuckeranteil zusätzlich, die berühmte Treppenszene in Odessa, in der die aufgewühlte Menschenmenge unter zaristischem Gewehrfeuer in ein Massaker läuft, ließe auch gar keine andere Konsequenz zu.
Allein das Stampfen wird lauter. Es ist der Rhythmus, mit dem das Leben immer mit muss. Geschichte wird gemacht. Volle Kraft voraus. Das Ziel: Unbedingte Freiheit. Die Komposition gibt selbst so beiläufigen Bildern wie dem morgendlichen Lagern der Schiffe im verschlafenen Hafen eine melancholische, unkitschige Intensität, die sich so mancher deutscher Filmemacher oder Hollywood-Regisseur wohl nicht im Traum vorstellen könnte. Allein der Song „No time for tears“, den Neil Tennant nach dem Ende des Films und vielen netten Worten seinerseits an die Dresdner und ihre Sinfoniker ein zweites Mal intoniert, tropft gehörig, da gibt es nichts herumzureden. Schön jedenfalls, dass man die beiden so auch noch einmal via Leinwand zu Gesicht bekommt, haben sie sich doch während des Films recht bescheiden im Hintergrund gehalten.
Man darf gewiss annehmen, dass es sich dabei um eine Form von Respekt handelt. Respekt vor der Geschichte und vor allem dem Mut, der sie verändert. So wird der Abend mit seinen unzähligen Beteiligten und Helfern und dem 10000-köpfigen Publikum einer großartigen Collage auch zu einem Plädoyer für einen wachen Geist, der nicht einschlafen sollte, wenn Freiheit in Schritten erreicht ist. Der in dieser Stadt und speziell auf der Prager Straße hoffentlich ein Zeichen gesetzt hat, dass auch Geschichte aus Beton Geschichte ist und zur Identität einer Stadt gehört.
Chris Lowe und Neil Tennant haben vermutlich, schon weil es sie zu faszinieren schien, noch eine Weile im Plattenbauwohnzimmer gesessen. Vielleicht ja bei Oma Ilse, mit Pantoffeln unterm MuFuTi. Doch auch für Sven Helbig, Torsten Rasch, Markus Rindt und all die anderen Initiatoren dürfte dieser Abend etwas Einmaliges gewesen sein. Die Zehntausend applaudieren noch lange.
Norbert Seidel