Kategorie: Medienecho

Symphony for Palestine: SZ Artikel 2

Süddeutsche Zeitung

Und alle aus der Teestube kamen zum Konzert

1. Juni 2013

Musik ist Politik: Dresdner Sinfoniker in Ramallah

Der Kulturpalast von Ramallah ist ein bulliger Bau mit 800 plüschigen Plätzen, und wer hier auftreten will, der muss erst einmal an den beiden Säulenheiligen des palästinensischen Kampfes vorbei. Die Porträts des Präsidenten-Duos Jassir Arafat selig und Mahmud Abbas zieren das marmorne Foyer, die Kultur steht wie alles andere unter dem Patronat der Politik, doch an diesem Abend soll dazu kein einziges Wort gesagt werden. Keine Ansprache, keine Einführung, keine klitzekleine Grußbotschaft des Fatah-Ministers. Die Musik soll für sich selber sprechen – und auf den ersten Blick geht das auch ohne Worte, wenn eine „Symphony for Palestine“ gegeben wird. Klingt nach einer gradlinigen Solidaritätsaktion der angereisten Dresdner Sinfoniker. Doch als am Ende der Applaus verebbt und die Bühne geräumt ist, steht deren Produzent Ben Deiß sichtlich erleichtert im Innenhof und spricht vom „glücklichen Ende einer dreijährigen Achterbahnfahrt“.

Tatsächlich sind die Wege, die nun 20 Streicher samt Begleittross aus dem deutschen Osten in den Nahen Osten geführt haben, nicht nur weit gewesen und verschlungen, sondern auch voller Fallen. Wer eine Palästina-Symphonie, komponiert obendrein von einem Iraner, von Sachsen ins Westjordanland bringt, der muss Mut haben oder zumindest reichlich Übermut. Grenzüberschreitungen mögen die Dresdner Sinfoniker gewohnt sein. Schließlich haben sie schon mit den Pet Shop Boys einen neuen Soundtrack zum Stummfilm „Panzerkreuzer Potemkin“ aufgenommen und die Hammer-Rocker von Rammstein interpretiert, wofür sie einen „Echo Klassik“ bekamen. Doch all das zählt wenig, wenn man sich plötzlich im nahöstlichen Minenfeld bewegt. Eine „Symphony for Palestine“: Geht das? Darf das ein deutsches Orchester? Was sagt Israel dazu? Solche Fragen müssen nicht einmal laut ausgesprochen werden, um von Beginn an ständig dissonant mitzuschwingen. Ein Wunder ist es deshalb schon fast, dass es trotzdem geklappt hat – und das mit Unterstützung der Kulturstiftung des Bundes, die das Projekt mit 190 000 Euro gefördert hat. „Risiko-Kapital“ nennt das die Stiftungssprecherin Friederike Tappe-Hornbostel, die auch darauf verweist, dass schon insgesamt 20 Israel- Projekte mit mehr als zwei Millionen Euro gefördert worden seien. Natürlich ist bei einer solchen Konzertreise vorab viel von der „Völker verbindenden Kraft der Musik“ die Rede gewesen, von der „universellen Sprache, die alle Grenzen überwinden kann“.

Doch vor Ort klingt das bei den Verantwortlichen angenehm nüchterner. „Zunächst einmal geht es um Kunst“, sagt Markus Rindt, der Intendant der Dresdner Sinfoniker. „Wir haben als Orchester keine politische Agenda“, ergänzt Deiß, „wir wollen hier sehr gute Musik mit sehr guten Musikern aufführen.“ Den goldenen Bogen schlägt schließlich der italienische Dirigent Andrea Molino, der befindet: „Musik ist Politik – in dem Sinne, dass sie etwas mit Gesellschaft zu tun hat.“ Doch er warnt energisch vor einem „overdrive“, denn das „verkleinere das künstlerische Werk“. Das Werk des in den USA lebenden iranischen Komponisten Kayhan Kalhor ist eine mal sehr sanfte, mal mitreißend-kraft-volle Fusion aus traditionellen persischen Melodien, arabischer Volksmusik und dem Klang eines europäischen Streichorchesters. Ursprünglich in Auftrag gegeben worden war dies als Filmmusik für den Dokumentarstreifen „Cinema Jenin“, in dem der deutsche Regisseur Marcus Vetter über sein eigenes Kinoprojekt in der palästinensischen Peripherie berichtet. Doch Bilder und Töne wollten am Ende nicht zusammenpassen, weshalb ein neuer Sinn und Titel für das fertige Musikwerk gesucht wurden. Die gut meinenden Deutschen kamen schnell auf „Symphony for Peace“, aber die palästinensischen Partner haben sich sogleich mit Grausen abgewandt. Nach 20 Jahren der nahöstlichen Friedensprozess-Huberei nämlich ist das abgenutzte „Peace“-Label für die Palästinenser gewiss kein Grund mehr, in die Konzertsäle zu strömen. Außerdem sitzt in diesem Marktsegment bereits recht breit Daniel Barenboim mit seinem West-Östlichen Divan-Orchester. Der Lösungsvorschlag „Symphony for Palestine“ erschien allerdings am Anfang auch deutlich zu plakativ. Doch dann fragte Deiß ganz basisdemokratisch in einer palästinensischen Teestube nach diesem Titel – und alle versprachen zum Konzert zu kommen.

Von einer „pragmatischen Entscheidung“ spricht er deshalb heute. Die Widrigkeiten waren damit allerdings noch längst nicht am Ende, denn die im Spätsommer 2011 geplante Uraufführung in Jenin musste aus Sicherheitsgründen verschoben werden, weil dort kurz zuvor der Theatermacher Juliano Mer-Khamis ermordet worden war – vermutlich von radialen Kräften unter den Palästinensern, denen jeglicher westliche Kultureinfluss ein Gräuel ist. Den Wind solchen Widerstands bekommen die Dresdner Sinfoniker auch noch auf ihrer nun nachgeholten Palästina-Tour tagtäglich zu spüren. „Verdächtigungen und Gerüchte gibt es die ganze Zeit“, berichtet der Intendant Rindt. „Ständig werden wir gefragt, ob wir auch wirklich nicht in Tel Aviv spielen, und irgendwann sagte einer, ich habe gehört, ihr habt einen israelischen Soldaten im Team.“ Willkommen also zwischen den Fronten des Nahost-Konflikts, willkommen im Kulturpalast von Ramallah. Am Morgen war Ben Deiß noch zu Werbezwecken im palästinensischen Frühstücksfernsehen aufgetreten. „Ganz entspannt“ sei das gewesen, meint er, „aber ich habe von vornherein gesagt, dass ich mir politische Fragen verbitte.“ Den ganzen Tag über hatten sie Wetten abgeschlossen, wie viele Leute zu diesem Konzert mit freiem Eintritt kommen würden. Doch zum geplanten Beginn um 19 Uhr 30 sind nur die wenigsten Plätze besetzt, und selbst der Popcorn-Verkäufer im Foyer macht ein langes Gesicht. Das Warten aber lohnt sich, um acht ist die Halle schon fast zu zwei Dritteln gefüllt, die Kinder falten Papierflieger aus den Programmzetteln und die anderen zeigen mit dem ersten Applaus, dass die Zuschauer nun bereit wären fürs Konzert. Für palästinensische Ohren ist die Symphonie leicht zugänglich, die Faszination liegt in der Fusion, und als erstes Indiz für den Erfolg kann gelten, dass nur ganz selten zwischendurch ein Handy klingelt. Das Publikum genießt die Musik und dankt es dem Orchester stehend mit langanhaltendem Applaus.

„Ich habe zum ersten Mal ein solches Orchester in Palästina gesehen, es hat mir sehr gut gefallen“, urteilt hinterher Muhannad Ismail. Als Assistenz-Professor an der Bir-Zeit-Universität nahe Ramallah stellt er sich vor, er hat seine Frau ausgeführt zum Konzert. „Sie mag diese Art von Spektakel“, sagt er, und die Gattin ergänzt, dass es hier „nicht viel anderes zu tun gibt an den Abenden und am Wochenende. Ich hoffe, dass in Zukunft noch mehr Orchester kommen.“ Eben dies war auch eines der Ziele, die der Produzent Ben Deiß vorab formuliert hatte. Die Dresdner Sinfoniker wollten „ein Beispiel geben für andere Orchester“, im Westjordanland zu spielen. Sie selbst werden nach insgesamt drei Konzerten in Ramallah, Ost-Jerusalem und Jenin nächste Woche nach Deutschland zurückkehren. Doch ein neuer Auftrittsort für die „Symphonie for Palestine“ wurde bereits ins Auge gefasst: Iran. Das Teheraner Kultusministerium habe bereits die Finanzierung angeboten, heißt es. „Wir haben das abgelehnt“, sagt Deiß. Es bleibt also alles hochpolitisch. Dabei geht es doch eigentlich nur um die Musik.


Symphony for Palestine: DNN Artikel 2

Dresdner Neueste Nachrichten

Noch immer die Mühen der Berge

14. Mai 2013

Die Dresdner Sinfoniker wollen in Ramallah, Ost-Jerusalem und Jenin konzertieren

Schon immer waren die Konzerte der Dresdner Sinfoniker ungewöhnlich: Musik aus China, Südamerika, dem Kaukasus, die Hochhaus-Sinfonie mit den Pet Shop Boys, Torsten Raschs Rammstein-Lieder „Mein Herz brennt“ waren ebenso außergewöhnlich wie ihr nächstes Projekt. Markus Rindt, 45-jähriger Intendant des international besetzten Orchesters, und Benjamin Deiß, 31-jähriger Kulturmanager, sind davon so überzeugt, dass sie sicher sind, die Probleme überwinden zu können. Ausnahmsweise ist das Hauptproblem diesmal nicht die Finanzierung, denn die Bundeskulturstiftung unterstützt das Projekt großzügig. Das eigentliche Problem sind die drei Spielorte Ramallah, Ost-Jerusalem und Jenin. Alle drei liegen auf palästinensischem Gebiet, und das Werk, das aufgeführt werden soll, heißt „Symphony for Palestine“. Die Initiatoren erläutern ihr Projekt so: „Gewidmet ist das Werk zwei Palästinensern: Juliano Mer-Khamis, dem ermordeten Leiter des Freedom Theatre in Jenin, sowie dem elfjährigen Ahmed Khatib, den ein israelischer Soldat 2005 erschoss, weil er die Wasserpistole des Jungen für eine scharfe Waffe hielt. Die Geschichte des palästinensischen Jungen ging um die Welt, denn seine Eltern spendeten Ahmeds Organe fünf israelischen Kindern.“

Damit soll erneut der grenzüberschreitende Charakter der Musik helfen, die Grenzen zwischen Menschen unterschiedlicher Kultur, Herkunft und sogar politischer Haltung nicht zu beseitigen – so naiv sind Rindt und Deiß nicht –, aber wenigstens ein bisschen durchlässiger zu machen. Die äußeren Umstände sind nicht die leichtesten. Die Sinfoniker arbeiten mit drei palästinensischen Organisationen zusammen, deren Verhältnis zueinander nicht ohne Reibungen verläuft. Weit gravierender ist die Sorge, dass die politische und militärische Lage in der Region weiter eskalieren und das Projekt dadurch zunichte gemacht werden könnte. Noch immer sind also, um es mit Brecht zu sagen, die Mühen der Berge nicht überwunden. Worin die Mühen der Ebenen bestehen werden, lässt sich bisher kaum abschätzen. Es ist leider eine Selbstverständlichkeit, dass kein israelischer Musiker mitwirken darf, wenn man nicht riskieren will, dass sich die palästinensischen Partner sofort zurückziehen. Schon in der Phase der Vorbereitung müssen die Sinfoniker jeden Akzent vermeiden, der fehlinterpretiert oder missverstanden werden könnte.

Die „Symphony for Palestine“ stammt von dem iranischen Komponisten und Kamancheh-Virtuosen Kayhan Kalhor (geboren 1963 in Teheran) und verbindet traditionelle persische Melodien mit Klängen und Spielweisen sowohl orientalischer Instrumente (Oud, Kamancheh und Qanun) wie auch eines mitteleuropäischen Streichorchesters. Die musikalische Leitung hat der 1964 geborene italienische Komponist und Dirigent Andrea Molino. Uraufgeführt wurde das Werk mit großem Erfolg 2011 in Hellerau mit Musikern aus Palästina, Iran und Ägypten sowie dem Komponisten Kayhan Kalhor (DNN berichteten). Erst wenn die Konzerte tatsächlich vom 30. Mai bis 2. Juni stattgefunden haben, wird man sagen können, ob das risikoreiche Unterfangen den wünschenswerten Erfolg hatte.


Symphony for Palestine: NMZ Artikel

Neue Musikzeitung

Dresdner Sinfoniker mit «Symphony for Palestine» erstmals vor Ort

31. Mai 2013

Die Dresdner Sinfoniker haben die «Symphony for Palestine» erstmals auch vor Ort aufführen können. Vor 450 Gästen spielten die 20 Musiker am Donnerstagabend im Kulturpalast in Ramallah im Westjordanland. 2011 hatte die Uraufführung der Sinfonie des Iraners Kayhan Kalhor noch aus Sicherheitsgründen aus dem Westjordanland nach Dresden verlegt werden müssen.

Ramallah – Nur langsam füllt sich der große Saal des Cultural Palace in Ramallah. Gekommen sind überwiegend junge, modern gekleidete Besucher, viele internationale und lokale Studenten, aber auch Grüppchen von kopftuchtragenden Frauen. Sie warten geduldig darauf, die ersten Töne der «Symphony for Palestine» zu hören. Vor fast 450 Gästen beginnt schließlich das langersehnte einstündige Konzert. Dreimal wollen die Dresdner Sinfoniker für Palästina spielen. Neben Ramallah stehen in den kommenden Tagen noch Ost-Jerusalem (1. Juni) und Dschenin (2. Juni) auf dem Plan. Zwei ehemaligen Bewohnern dieser nordpalästinensischen Stadt ist das Werk auch gewidmet – dem vor zwei Jahren ermordeten Leiter des Freedom Theatre in Dschenin, Juliano Mer-Khamis, und dem elfjährigen Ahmed Chatib, den 2005 ein israelischer Soldat erschoss, weil er die Spielzeugpistole des Jungen für echt hielt.

«Für uns steht bei diesem Projekt aber nicht die Politik im Vordergrund», sagte Produzent Ben Deiß der Nachrichtenagentur dpa. Vielmehr gehe es darum, den Menschen vor Ort Musik zu bringen und damit Grenzen zu überwinden. Komponiert wurde «Symphony for Palestine» von dem iranischen Komponisten Kayhan Kalhor. Unterstützt wird das 20-köpfige Orchester von fünf palästinensischen und aserbaidschanischen Musikern. Zu ihnen gehört der 21-jährige Emil Bishara aus Nazareth, ein Ziehkind des Oud-Virtuosen Kamil Shajrawi, der ebenfalls auf der Bühne sitzt und «arabische Violine» spielt – eine Musik, bei der einzelne Töne fließend ineinander übergehen. «Allerdings wollen wir keine Weltmusik machen. Sondern unterschiedliche musikalische Traditionen zusammenführen», sagte der italienische Dirigent Andrea Molino auf einer Pressekonferenz in Ost-Jerusalem.

Weil die Sicherheitslage in Dschenin es 2011 nicht zuließ, wurde das Stück damals in Dresden uraufgeführt. Für Geigerin Christiane Thiele waren die neuerlichen Proben eine willkommene Abwechslung. «Orientalische Musik fühlt sich ganz anders an. Wir werden ja im Studium gedrillt, sauber zu spielen. Hier kommt immer noch ein Vibrato hinzu oder irgendwas anderes. Es wird viel mehr improvisiert.» Wie die meisten ihrer Kollegen ist die Dresdnerin zum ersten Mal im Nahen Osten. Checkpoints entlang des Sicherheitszauns zu passieren, der Israel vom Westjordanland trennt, ließ bei manchen schmerzliche Erinnerungen an Grenzzaun und Mauer quer durch Deutschland wach werden. Gefördert wird die einwöchige Konzerttour unter anderem von der Kulturstiftung des Bundes und der Stadt Dresden. Dank der finanziellen Unterstützung ist der Eintritt zu den Konzerten frei. Dass in Ramallah trotzdem nicht vor vollem Haus gespielt wurde, lag laut einem palästinensischen Besucher womöglich an konkurrierenden Abendveranstaltungen in der Stadt. «In Dschenin wird das nicht passieren. Da ist so etwas wie das hier einzigartig. Deshalb warten alle förmlich darauf.» Und auch der Direktor des «El Hakawati – National Palestinian Theatre» in Ost-Jerusalem, wo das zweite Konzert stattfinden soll, ist überzeugt: «Palästinenser hören liebend gern Musik. Alle Menschen tun das.»


Symphony for Palestine: FR Artikel

Frankfurter Rundschau

Eine Symphony für Palästina

1. Juni 2013

Kurz vor Konzertbeginn macht sich Nervosität breit. Werden die Palästinenser kommen? Die Dresdner Sinfoniker und ihr Dirigent Andrea Molino haben keine Ahnung, was sie im Kulturpalast von Ramallah erwartet – die Zuhörer auch nicht. Aber der Titel „Symphony for Palestine“ zieht. Mehr und mehr Leute füllen die Plätze, an die 500 sind es, als die Sinfoniker schließlich auf die Bühne treten. Klassische Konzerte hat man in Ramallah öfters erlebt – Daniel Barenboim sei Dank. Aber solch grenzüberschreitende Klänge wie an diesem Donnerstag hat das Publikum selten vernommen. Das liegt nicht zuletzt an den orientalischen Instrumenten – Oud, Qanun, Kamancheh und Tamburin –, die der iranische Komponist Kayhan Kalhor mit einem europäischen Streichensemble verknüpft. Die Symphonie für Palästina, eine Mischung aus arabischen Volksweisen, persischen Melodien und minimalistischer Klassik, bewegt. Am Ende Standing Ovations. „Nie hätte ich gedacht“, meint eine junge Kopftuch-Frau, „dass Palästina so inspirierend ist“.

Am 30.05.2013 wird die „Symphony for Palestine“ zum ersten Mal in Ramallah aufgeführt. Die Erstaufführung des Stücks fand aufgrund damaliger Sicherheitsbedenken in Dresden statt. Molino, der tänzerische Dirigent, schwebt auf Wolken. Die „Palestine Symphony“ vor leibhaftigen Palästinensern zu spielen, sagt er, „ist unvergleichlich“. Und das in mehrfacher Hinsicht. Vor zwei Jahren gab es das Vorhaben schon mal, aber musste vertagt werden. Nach dem Mord an Juliano Mer Khamis, dem Leiter des „Freedom Theatre“ in Jenin, überwog die Angst. Unter dem Eindruck des Attentats hat Kalhor denn auch die Musik geschrieben. Jedenfalls fand die eigentlich im Cinema Jenin geplante Uraufführung der Palästina-Symphonie am Ende in Dresden statt. Auch das Werk hat den Titel gewechselt. Die Namensidee „Symphony for Palestine“ kam erst auf, nachdem „Symphony for Peace“ fallen gelassen wurde, weil Palästinenser rieten, zu viel Friedensgetue sei angesichts der Verhältnisse nicht gerade glaubwürdig. Dafür haben sie jetzt eine ihnen gewidmete Symphonie.


Symphony for Palestine: Freie Presse Artikel

Freie Presse

Eine Brücke von Sachsen ins Westjordanland

1.Oktober 2011

Dresdner Sinfoniker spielen mit arabischen Solisten in Hellerau die Musik zum Dokumentarfilm „Cinema Jenin“.

Eigentlich sollte der Dokumentarfilm „Cinema Jenin“ in diesem Herbst im Westjordanland Weltpremiere feiern, im Kino von Dschenin. Dass die Filmmusik nun in Dresden uraufgeführt wird und der Film selbst noch nicht fertig ist, hängt mit dem gewaltsamen Tod eines jüdisch-palästinensischen Theatermachers zusammen: Im April wurde Juliano Mer Khamis in Dschenin ermordet, Drohungen gegen andere folgten. „Da konnten wir das Risiko nicht übernehmen, ein Orchester dorthin zu schicken“, sagt Markus Rindt, Chef der Sinfoniker. So spielt das Ensemble nun „Cinema Jenin – A Symphony“ erstmals am heutigen Samstag im Festspielhaus Hellerau unter der Leitung von Andrea Molino. Dazu sollen Szenen aus „Cinema Jenin“ gezeigt werden, einem Film über ein Kino in der palästinensischen Kleinstadt, das im August 2010, 23 Jahre nach seiner Schließung, mit internationalen Spendengeldern wiedereröffnet wurde. Der Regisseur des Films, Marcus Vetter, ist zugleich Mitinitiator der Wiedereröffnung. Die Musik spielen 26 Streicher der Dresdner Sinfoniker, einem Projektorchester mit Mitgliedern aus zahlreichen international renommierten Ensembles, eine Percussionistin, dazu fünf Solisten mit traditionellen orientalischen Instrumenten.

Das Projekt sei eine Zusammenkunft „von Musikern, von Menschen, von Kulturen“, erklärt Ben Deiß, Filmproduzent und Koproduzent des Musikprojektes. Komponist wiederum ist der Iraner Kayhan Kalhor, ein bekannter Virtuose auf der Kamancheh, einem traditionellen persischen Streichinstrument. „Kayhan Kalhor hat ein einmaliges Talent, Ost und West zusammenzuführen“, sagt Rindt. „Deshalb haben wir ihn mit der Komposition beauftragt“, betont der Sinfoniker-Intendant. Und er erklärt: „In Dschenin gibt es kein Geld, kein Wasser, keinen Strom.“ So sei das Kino als Kulturzentrum mit Gästehaus und Gartencafé eine „Oase mitten in der Stadt“, die durch das angrenzende UN-Flüchtlingslager bekannt geworden ist. Es ist nicht das erste Mal, dass die Dresdner Sinfoniker mit einem außergewöhnlichen Projekt Aufsehen erregen: So spielte das 1997 gegründete Ensemble 2003 einen Liederzyklus frei nach Texten und Musik der Gruppe Rammstein, begleitete es Anfang des Jahres in Berlin den preisgekrönten Zeichentrickfilm „Waltz With Bashir“ über den ersten Libanonkrieg mit Live-Musik. Über dieses Projekt ist der Kontakt ins Westjordanland zustande gekommen. Vorerst wird das Konzert am Samstag das einzige sein – eine „exklusive Vorschau“, so Produzent Deiß. Wenn der Film in ein paar Wochen fertig sei, soll er Festivals angeboten werden, im Idealfall auf der Berlinale laufen. Im Frühjahr wollen die Musiker den Dokumentarfilm auf einer Tournee in den Nahen Osten begleiten. Dann soll die Musik auch in Israel und im Westjordanland zu hören sein.

Zeynep Gedizlioglu

Komponistin

Zeynep Gedizlioğlu, geboren 1977 in Izmir (Türkei), studierte Komposition bei Cengiz Tanc, Theo Brandmüller, Ivan Fedele und bei Wolfgang Rihm, sowie Musiktheorie bei Michael Reudenbach. Von 2010 bis 2011 arbeitete sie am Institut für Musik und Akustik IRCAM in Paris. Lehrtätigkeiten führten sie an die Mimar Sinan Universität und Akademie Istanbul und für einen Meisterkurs an die Bilkent Universität Ankara.

Ihre Kompositionen wurden bei internationalen Festivals wie, MITo Settembre Musica, Musica Strasbourg, ISCM World New Music Days, Maerz Musik, Beethovenfest Bonn, Eclat Stuttgart, Wien Modern, Salzburger Festspiele, Wittener Tage für Neue Kammermusik aufgeführt. Im Radio erklangen ihre Werke in Liveübertragungen beim SR2 Kultur Radio, Acik Radyo Istanbul, Radio France  Musique, SWR2, SRF2 Kultur, hr2 Kultur und ORF1 und vielen anderen. Sie arbeitet zusammen mit den Solisten des SWR Sinfonieorchesters Baden-Baden und Freiburg, mit dem Orchestre National de Lorraine, dem Borusan Istanbul Philharmonic Orchestra, Radio Symphonie Orchester Wien, dem Ensemble Modern, ensemble recherche, Accroche Note, Ensemble 2e2m, Oenm Ensemble, Ensemble Orchestral Contemporain, den Neue Vocalsolisten Stuttgart, Klangforum Wien und dem Arditti Quartett, die zahlreiche Werke uraufgeführt haben. Einige ihrer Werke wurden auf CD veröffentlicht, unter anderem die Portrait CD Zeynep Gedizlioğlu: Kesik (col legno) gefördert durch die Ernst von Siemens Musikstiftung.

2012 erhielt Zeynep Gedizlioğlu den Komponisten-Förderpreis der Ernst von Siemens Musikstiftung und 2014 den “Composer of the Year” Preis im Rahmen der 5. Donizetti Classical Music Awards in Istanbul.


Symphony for Palestine: SZ Artikel

Sächsische Zeitung

Uraufführung eröffnet Dresdner „TonLagen“-Festival

2. Oktober 2011

Die Geschichte um „Das Herz von Jenin“ hat das Kinopublikum bewegt. Jetzt wurde in Dresden das Musikstück „Cinema Jenin – A Symphony“ uraufgeführt. 

Mit der Uraufführung des Werkes „Cinema Jenin – A Symphony“ ist am Samstagabend das Dresdner „TonLagen“-Festival für zeitgenössische Musik eröffnet worden. Die Dresdner Sinfoniker traten dabei gemeinsam mit Musikern aus dem Iran, Ägypten, Israel, dem Westjordanland und den USA auf. Die Musik entstand im Zusammenhang mit dem Film „Cinema Jenin“ des Deutschen Marcus Vetter. Er schildert darin den Wiederaufbau eines Kinos in der Ortschaft Dschenin (Jenin) im Westjordanland. Der Iraner Kayhan Kalhor komponierte die Musik.

Das Publikum im ausverkauften Hellerauer Festspielhaus zeigte sich sehr bewegt von dem von Filmbildern begleiteten Abend. Der Film hat einen tragischen Hintergrund: 2005 erschoss in Jenin ein israelischer Soldat ein Kind, das eine Spielzeugpistole in der Hand hielt. Filmemacher Vetter begleitete den Vater des Kindes nach Israel – denn Ismael Khatib, Widerstandskämpfer aus dem palästinensischen Flüchtlingslager von Jenin, spendete die Organe seines Sohnes israelischen Kindern. Vetter wollte seinen Film „Das Herz von Jenin“, der 2010 den Deutschen Filmpreis als bester Dokumentarfilm gewann, unbedingt auch in Jenin selbst zeigen. Das einzige Kino der Stadt war seit Ausbruch der ersten Intifada geschlossen. Vetter und Khatib halfen, es wieder aufzubauen. Die Filmkamera lief dabei mit. Für den neuen Dokumentarfilm „Cinema Jenin“ komponierte Kalhor eine Sinfonie. Die Uraufführung sollte live zur Filmvorführung in Jenins frisch renoviertem Kino stattfinden. Der Mord an dem israelischen Filmregisseur Juliano Mer-Khamis machte das unmöglich.

Stattdessen spielten die Dresdner Sinfoniker das Werk nun unter der Leitung des Dirigenten Andrea Molino erstmals. Juliano Mer-Khamis und Ahmed Khatib gewidmet, ist „Cinema Jenin – A Symphony“ ein Stück, das für europäische Ohren fremdländisch klingt, aber in Begleitung der Filmbilder klare Botschaften transportiert. Die Musik schildert Kämpfe, sie trauert, sie will erinnern, mahnen und Hoffnung machen. Die solistische Besetzung mit Musikern aus acht Nationen ist als Bekenntnis zur Versöhnung zu verstehen. Dass das Dresdner Orchester dafür nur einen schlichten, traditionell tonal gewebten Klangteppich liefern durfte und höchstens einmal die Melodien spiegelte, die Sa’ad Mohamed Hassan im arabischen Stil vorgeigte, ist aus musikästhetischen Gründen vielleicht bedauerlich, tritt aber bescheiden hinter die Botschaft zurück. Die Bilder, die Vetter vom Wiederaufbau des Kinos aufnahm und die vom Produzenten Ben Deiß für den Abend zusammengestellt worden waren, wurden über das Orchester projiziert und hatten ihre eigene, unmissverständliche Sprache.


Symphony for Palestine: DNN Artikel

Dresdner Neueste Nachrichten

TonLagen-Festival Dresden wartet mit der Uraufführung der Dschenin-Symphonie auf

28. September 2011

Die kleine Stadt Dschenin (englisch: Jenin) im Westjordanland galt lange als Terroristenhochburg und ist wegen einer Tragödie bekannt. Hier erschossen israelische Soldaten 2005 den elfjährigen Ahmed Chatib, weil sie seine Wasserpistole für eine scharfe Waffe hielten. Ahmeds Vater Ismail und seine Frau spendeten die Organe ihres toten Jungen und retteten so fünf israelischen Kindern das Leben. Chatibs Name wurde zum Friedenssymbol. Die Geschichte wird im Dokumentarfilm „Das Herz von Jenin“ (2008) erzählt. Regisseur Marcus Vetter wollte ihn auch in Dschenin zeigen. Doch ein Kino gab es dort seit der ersten Intifada 1987 nicht mehr, es war dem Verfall preisgegeben. Isamil Chatib und Marcus Vetter hatten die Idee, es wieder aufzubauen.

2010 war es soweit. Inzwischen ist „Heart of Jenin“ dort gelaufen. Widerstände gab es viele, auch von palästinensischer Seite. Vetters neuer Film handelt nun vom Wiederaufbau des Kinos. Die Musik dazu schrieb der iranische Komponist Kayhan Kalhor. Zur Eröffnung des Festivals TonLagen an diesem Samstag im Dresdner Festspielhaus Hellerau hat „Cinema Jenin – A Symphony“ Uraufführung. Dann stehen neben Musikern aus dem Iran, Ägypten, Israel und den USA auch die Dresdner Sinfoniker auf der Bühne. Intendant Markus Rindt hatte „Das Herz von Jenin“ im Sommer 2010 am Originalschauplatz gesehen. „Im Juni 2010 war ich das erste Mal in Dschenin und völlig überwältigt von dem Aufbruch-Elan“, schildert Rindt seine Eindrücke. Auch etwa 100 deutsche Jugendliche und Palästinenser halfen mit, das Filmtheater zu sanieren. Heute hat es einen Saal mit 400 Plätzen. Bei Open-Air-Kinoaufführungen können bis zu 2000 Leute zuschauen. Ein aufgeschütteter Strand mit Pool ist nun zentraler Punkt für Kinder und Jugendliche in dem eher trostlosen Ort, sagt Rindt. Das Meer sei in Sichtweite, wegen der Sperranlagen aber für viele unerreichbar: „Es gibt eine tolle Aufbruchstimmung, natürlich verbunden mit der Frustration, eingesperrt zu sein.“

Eigentlich sollte „Cinema Jenin – A Symphony“ im dortigen Filmtheater seine Uraufführung haben. Die Ermordung von Juliano Mer-Chamis, Chef des Freedom Theatre in Dschenin, im April dieses Jahres hat das verhindert. Aus Sicherheitsgründen wurden die Reisepläne verworfen. Marcus Vetter hat die Fertigstellung seines Filmes verschoben, weil er die Tragödie um den getöteten Theatermann noch mit einbauen will. Nach Aussagen von Rindt möchten die Musiker die Filmmusik gern auch im Westjordanland spielen – irgendwann, wenn das einmal möglich ist. Rindt und Mitproduzent Ben Deiß haben lange dafür gearbeitet. Zunächst ist aber Dresden Schauplatz der Premiere.


Symphony for Palestine: Zeit Artikel

Die Zeit

Dresdner Sinfoniker: Fünf Leben

29. September 2011

Wenn Markus Rindt sich etwas in den Kopf gesetzt hat, erscheint ihm wenig unmöglich. Mal postierte der Intendant seine Dresdner Sinfoniker auf Dächer und Balkone der Einkaufsmeile Prager Straße, wo sie mit dem britischen Pop-Duo Pet Shop Boys eine Hochhaussinfonie aufführten. Mal organisierte er das erste Ferndirigat der Welt, bei dem die Musiker per Satellitenübertragung von einem Dirigenten aus London durch das Stück geleitet wurden. Rindt hat ein Faible für das Außergewöhnliche und kein Problem damit, seine Kollegen heftig zu fordern. Nur in Gefahr bringen will er sie nicht. Der 44-Jährige sagte daher ein Projekt ab, das ihn in den Nahen Osten geführt hätte; so beschert er Sachsen ein Kulturereignis: Am 1. Oktober werden seine Sinfoniker mit israelischen und arabischen Musikern das Stück Cinema Jenin: A Symphony uraufführen – nicht, wie geplant, im Westjordanland, sondern in Dresden-Hellerau auf dem Tonlagen-Festival.

Cinema Jenin ist nicht nur eine Sinfonie, es ist auch die Musik zum gleichnamigen Film eines deutschen Regisseurs. Der erzählt vom Schicksal eines Palästinensers aus Jenin, der die Organe seines von israelischen Soldaten erschossenen Sohnes spendete und so fünf Kindern aus Israel das Leben rettete. Beide Männer engagierten sich danach für den Wiederaufbau des örtlichen Kinos, das während der Intifada zerstört worden war.

Die Idee, über die Kultur zum Frieden in einer Stadt beizutragen, die lange als Terrorzentrale galt, gefiel Markus Rindt. Der gebürtige Magdeburger, der 1989 in die Prager Botschaft flüchtete, um die DDR verlassen zu können, glaubt daran, dass Musik zur Versöhnung beiträgt. Vor allem, wenn die richtigen Leute beteiligt sind: Cinema Jenin wurde von dem Iraner Kayhan Kalhor komponiert. »Keiner kann die europäische Orchesterwelt so gut mit der arabischen Kultur verbinden wie er«, sagt Rindt, »die arabische Tradition mit den vielen Vierteltönen klingt für uns ja immer etwas schräg.« Der Intendant hätte die Sinfonie gern in Jenin uraufgeführt, doch nach dem Mord an einem Unterstützer des Kinos im April und nach Drohungen, dass andere Kulturschaffende das gleiche Schicksal erleiden könnten, entschied er sich dagegen. An der für 2012 geplanten Tournee durch Israel und das Westjordanland, bei der die Musiker den Dokumentarfilm live begleiten sollen, hält er dennoch fest. »Cinema Jenin ist ein Projekt, das beweist: Gewalt kann überwunden werden. Wo, wenn nicht in dieser Region, muss das gezeigt werden?« Selbst mitspielen wird er bei der Dresdner Aufführung nicht. Seit drei Jahren kümmert der Hornist sich ganz ums Management der Sinfoniker. »Es gibt Instrumente, bei denen man Patzer vertuschen kann. Beim Horn geht das nicht«, sagt Rindt. »Und bevor meine Kollegen mich nur noch dulden, habe ich lieber von selbst aufgehört.«


Aghet: Spiegel Artikel 2

Spiegel Online

Streit um Dresdner Musikprojekt : „Das kann nicht hingenommen werden“

25. April 2016
Ein Interview von Nataly Bleuel

Der türkische Botschafter in Brüssel beschwert sich über ein Dresdner Musikprojekt – und die EU-Kommission entfernt prompt einen Hinweis des Stücks von ihrer Homepage. Was sagen die künstlerischen Leiter von „Aghet“ dazu?

Markus Rindt, 48, ist Intendant der Dresdner Sinfoniker. Marc Sinan, 39, ist Musiker. Ihr Projekt „Aghet“ soll Ende April in Dresden Premiere feiern und anschließend auch in Istanbul und Erewan aufgeführt werden.

SPIEGEL ONLINE: Herr Rindt, worum geht es bei dem Musikprojekt „Aghet“?

Rindt: „Aghet“ thematisiert den Völkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich, der vor hundert Jahren stattfand, uns geht es um Versöhnung. Das Orchester besteht wie ähnliche Projekte der Dresdner Sinfoniker aus verschiedenen Nationen: Neben türkischen, armenischen und deutschen Musikern wirken hier auch Musiker des „No Borders Orchestra“ mit; sie stammen aus den ehemaligen jugoslawischen Teilrepubliken.

SPIEGEL ONLINE: Was bedeutet „Aghet“?

Rindt: „Aghet“ steht im Armenischen für Katastrophe. Wir haben den armenischen Begriff mit dem türkischen „at“ gekoppelt, das mit Klagelied übersetzt werden kann.

SPIEGEL ONLINE: Das Projekt wird auch von der EU finanziert. Die EU-Vertretung der Türkei in Brüssel hat nun verlangt, die Finanzierung einzustellen . Haben Sie damit gerechnet, dass es Ärger geben könnte?

Sinan: Wir haben damit gerechnet, dass es schwierig sein könnte, in der Türkei zu spielen und sorgfältig daran gearbeitet, dass eine Aufführung möglich wird. Sie soll im November in Istanbul stattfinden. Mich überrascht das Vorgehen der Türkei auch insofern, da die Öffentlichkeit für das Thema ja viel größer wird. Die türkische Seite wollte offenbar verhindern, dass dieses Projekt publik wird und forderte die EU-Kommission auf, dafür zu sorgen, dass möglichst wenig darüber an die Presse gelangt.

SPIEGEL ONLINE: Wann ist das passiert?

Sinan: Vor zwei, drei Wochen fanden die ersten Versuche der Einflussnahme auf die EU-Kommission auf höchster Ebene statt. Wir haben es aber auch nur durch Nachhaken erfahren. Man wollte offenbar nicht, dass das alles an die Öffentlichkeit dringt. Gerade zum Besuch der Bundeskanzlerin in der Türkei.

Rindt: Die Türkei finanziert „Aghet“ mit. Das Projekt wurde vor allem möglich durch die Unterstützung des Kulturprogramms der Europäischen Union, „Creative Europe“. Sie bewilligten 200.000 Euro und die Türkei zahlt in den Fördertopf der EACEA (Exekutivagentur der EU für Bildung, Audiovisuelles und Kultur Anm. d. Red.) ein. Weiterhin haben wir die Unterstützung des Hauptstadtkulturfonds, der Landeshauptstadt Dresden, der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen, der Kulturstiftung der Dresdner Bank, des Fonds Soziokultur, der Bundeszentrale für Politische Bildung und des Auswärtigen Amts.

SPIEGEL ONLINE: Wie hat die EU-Kommission reagiert?

Rindt: Wir sind froh, dass sich die EU-Kommission und die die Kooperationsprojekte fördernde Exekutivagentur EACEA trotz der Intervention der türkischen EU-Vertretung hinter uns gestellt und eine Streichung des Zuschusses ausgeschlossen haben. Aber nachdem die türkische Seite damit drohte, die Einzahlung ihrer Beiträge in den Topf der EACEA einzustellen und auch die EU-Beitrittsverhandlungen der Türkei infrage zu stellen, entschied sich die EU-Kommission, die Beschreibung unseres Projektes von ihrer Seite zu nehmen, um diese sprachlich „zu entschärfen“.

SPIEGEL ONLINE: Laut EU-Kommission, weil darin der Begriff Völkermord benutzt wird.

Sinan: So ist es. In der Projektbeschreibung haben wir beim Namen genannt, worum es geht. Dieser Text wurde nun gelöscht. Das ist ein massiver Eingriff in die künstlerische Meinungsfreiheit. Und eine Beleidigung der Opfer und ihrer Nachfahren. Das kann nicht hingenommen werden und daher haben wir uns entschieden, die Affäre öffentlich zu machen.

SPIEGEL ONLINE: In einem offenen Brief an Bundeskanzlerin Merkel schreibt Can Dündar, Chefredakteur der türkischen Zeitung „Cumhuriyet“ und von Präsident Erdogan unter anderem wegen Spionage angeklagt: „In der Türkei herrscht ein Kampf zwischen Demokraten und Autokraten. Es ist ein Ringen auf Leben und Tod zwischen jenen, die für Grundrechte einstehen, für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Pressefreiheit, Säkularismus – und anderen, die an Krieg, Unterdrückung und radikale Ideologien glauben. In dieser historischen Schlacht stehen Sie und Ihr Land leider auf der falschen Seite.“

Sinan: Ich bin pessimistischer als Dündar, ich denke die Türkei hat längst eine Grenze überschritten. Und die Appeasement-Politik durch die Bundesregierung und die EU wird dazu führen, dass sich die Katastrophe vielleicht verzögert – aber dafür um so größer wird.

SPIEGEL ONLINE: Was für eine Katastrophe?

Sinan: Das Vorgehen gegen die Kurden, die Unterdrückung aller oppositionellen Kräfte, der Wandel zum Autoritarismus, der „Flüchtlingsstrom“ nach Europa. Es wird eine Katastrophe, weil die Türkei die Integrität des Nationalstaats über die Menschen gestellt hat: nicht der Staat dient dem Bürger, der Bürger hat dem Staat zu dienen oder er darf in ihm nicht leben.

SPIEGEL ONLINE: Wie sollte sich Deutschland, wie die EU Ihrer Meinung nach verhalten?

Rindt: Deutschland und die EU müssen sich im Bezug auf den Völkermord eindeutig positionieren. Dies gebietet allein schon unsere eigene Geschichte. Ohne eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und ohne die Bereitschaft der Türkei, die damaligen Geschehnisse als das zu bezeichnen, was sie waren, wird eine Versöhnung nicht möglich sein…

Sinan: …nicht mit den anderen und nicht mit der eigenen Geschichte. Daraus entstehen immer neue Katastrophen, wie der Umgang mit den Kurden oder das Erstarken des IS. Aber wir fühlen uns der Vision von Frank-Walter Steinmeier verbunden, dass kulturelle Arbeit sich auch mit Träumen und Traumata auseinandersetzt und nur dadurch zu besserem gegenseitigem Verständnis kommen kann.

SPIEGEL ONLINE: Macht Ihnen die Situation Angst?

Rindt: Die versuchte Einflussnahme erst auf deutsche Satiriker, dann auf Kulturprojekte kann nicht hingenommen werden. Vielleicht eröffnet unser Projekt aber auch eine Chance, die Diskussion in Deutschland und Europa zu diesem Thema zu beleben. Das wäre für mich eine Hoffnung.
Sinan: Die Angst der Bevölkerung ist die Kraft, aus der sich die Macht der türkischen Regierung speist. Die Angst der Menschen, es könnte schlechter werden, wenn die Regierung zornig ist, die Angst der Intellektuellen vor dem Gefängnis. Die Angst der Mutigen, wie Hrant Dink , getötet zu werden. Stellen Sie sich eine Türkei vor, in der morgen früh jeder Mensch aufstehen würde und angstfrei sprechen und handeln würde. Ich möchte davon träumen, es wäre ein glückliches, ein freies, ein friedliches Land.
SPIEGEL ONLINE: Auch vor einem Jahr, 100 Jahre nach der Katastrophe, bei der anderthalb Millionen Menschen ermordet wurden, haben Sie im Zusammenhang mit Ihrem Stück „KOMITAS“ von Genozid gesprochen. Welche Reaktionen gab es damals?

Sinan: Da kamen ein paar böse Mails, das wars. Zum hundertsten Jahrestag war die internationale Aufmerksamkeit zu groß. Und die Türkei hat sich noch nicht so viel Einflussnahme herausnehmen können wie heute.


Aghet: Spiegel Artikel

Spiegel Online

Projekt „Aghet“: Türkei protestierte offenbar gegen Konzert in Dresden

23. April 2016

Ein Konzert der Dresdner Sinfoniker hat anscheinend den Unmut der türkischen Regierung erregt, sie soll bei der EU interveniert haben. Der Intendant spricht von einem „Angriff auf die Meinungsfreiheit“.

Die Türkei hat offenbar auf EU-Ebene gegen das Konzertprojekt „Aghet“ der Dresdner Sinfoniker zum Genozid an den Armeniern vor 100 Jahren interveniert. Der türkische EU-Botschafter verlange, dass die Europäische Union die finanzielle Förderung für die internationale Produktion einstelle, sagte Intendant Markus Rindt am Samstag in Dresden.

Er sprach von einem „Angriff auf die Meinungsfreiheit“. Das Projekt, das im November 2015 in Berlin Premiere hatte und auch in Istanbul gastieren soll, sieht der Intendant aber nicht in Gefahr. „Ich glaube nicht, dass unsere Agentur einknickt.“

Die Exekutivagentur für Bildung, Audiovisuelles und Kultur bei der EU-Kommission stehe hinter „Aghet“, berichten die „Dresdner Neuesten Nachrichten“.

Die Agentur soll Rindt zufolge aber Informationen über den Fall auf ihrer Internetseite entfernt haben. „Das finden wir nicht gut.“ Es sei ein Warnsignal, dass die türkische Regierung selbst vor Einflussnahme auf freie Meinungsäußerung in Kunst und Kultur in Europa nicht zurückschrecke. In der Angelegenheit habe sie bei der EU sogar mit Abbruch der Beitrittsverhandlungen gedroht.

„Sie wollten, dass niemand davon erfährt und dass die Begriffe Genozid und Völkermord getilgt werden“, sagte Rindt. Für die Musiker namhafter europäischer Orchester sei eine solche „Entschärfung“ inakzeptabel. „Man muss beim Namen nennen, was es war“, betonte der Orchester-Intendant. „Wir können nicht drum herumreden, dass es um Völkermord geht.“

Die Brüsseler EU-Kommission bestätigte, dass der Text von der Website entfernt wurde. Es habe Bedenken gegeben bezüglich der Wortwahl. Daher sei der Text vorübergehend entfernt worden, um mit dem Vermarkter über neue Formulierungen zu sprechen.

„Eine neue Projektbeschreibung wird in den nächsten Tagen veröffentlicht werden“, versicherte eine Sprecherin. Die EU-Kommission unterstütze das Projekt mit 200.000 Euro. „Seine Umsetzung ist nie infrage gestellt worden“, erklärte sie.

Zum Hintergrund: Im Osmanischen Reich waren 1915 viele Armenier deportiert und ermordet worden . Schätzungen zufolge kamen 800.000 bis 1,5 Millionen Angehörige der christlichen Minderheit ums Leben – für die Armenier selbst und für die meisten Historiker ein klarer Fall von Völkermord. Die Türkei als Nachfolgestaat des Osmanischen Reichs sieht im Begriff Völkermord hingegen eine ungerechtfertigte Anschuldigung.

Intendant Rindt erklärte, in dem Kunstprojekt gehe es darum, einen Dialog in Gang zu setzen. Die Idee zu „Aghet“ stammt vom deutsch-türkischen Gitarristen Marc Sinan. Nach zwei Aufführungen in Dresden Ende April soll das Konzert, für das sich die Sinfoniker mit Kollegen aus der Türkei, Armenien und Mitgliedern des No Borders Orchestra aus dem früheren Jugoslawien verstärkten, in Istanbul, Belgrad und Jerewan gastieren.

Die Intervention der türkischen Regierung zeige, wie wichtig gerade das Gastspiel in Istanbul für die gemeinsame Vergangenheitsbewältigung sei, sagte Rindt.

Die sächsische Europaabgeordnete Cornelia Ernst (Linke) erklärte, Kunst- und Meinungsfreiheit als höchste Güter und Säulen der EU seien keine Verhandlungsmasse. „Wer Mitglied der EU werden will, muss diesen Werten entsprechend handeln.“ Die EU-Kommission dürfe ihre Entscheidung nicht noch einmal infrage stellen.
Für die Sinfoniker ist der Widerstand vom Bosporus nichts Neues. Auch 2014 habe „die Benennung des Genozids genügt, um die türkische Regierung auf den Plan zu rufen“, erinnert sich Rindt. Das Kulturministerium in Ankara und die aserbaidschanische Botschaft zogen damals ihre Unterstützung für ein Projekt kurz vor der Premiere zurück.

Rindt betonte, den Sinfonikern gehe es nicht um Provokation, sondern um Versöhnung. „Schade, dass sie das nicht verstehen.“ Die nächste Aufführung von „Aghet“ im Dresdner Festspielhaus Hellerau soll am 30. April stattfinden.